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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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besser gesagt, ich dachte nicht, sondern saß auf meinem Bett und starrte aus dem Fenster auf die vereisten Eiben unten vor dem Haus. Nach einer Weile stand ich auf und ging an meinen Schreibtisch, aber arbeiten konnte ich auch nicht. Einfachflüge, hatte die Telefonistin gesagt. Nicht erstattungsfähig.
    In Kalifornien war es elf Uhr vormittags. Meine Eltern würden jetzt beide arbeiten. Ich ging hinunter zu meinem alten Freund, dem Münztelefon, und rief Francis’ Mutter in Boston an.
    »Ja, Rich ard«, sagte sie, als sie endlich begriffen hatte, wer ich war. »Darling. Wie nett von dir, uns anzurufen. Ich dachte, du würdest Weihnachten bei uns in New York verbringen. Wo bist du, mein Lieber? Kann ich jemanden schicken, der dich abholt?«
    »Nein, vielen Dank, ich bin in Hampden«, sagte ich. »Ist Francis da?«
    »Du liebe Güte, der ist doch in der Schule, oder?«
    »Entschuldigung«, sagte ich, plötzlich verdattert; es war ein Fehler gewesen, einfach so anzurufen, ohne mir zu überlegen, was ich sagen wollte. »Tut mir leid. Ich glaube, mir ist da ein Irrtum unterlaufen.«
    »Wie bitte?«
    »Ich dachte, er hätte etwas davon gesagt, daß er heute nach Boston fahren wollte.«
    »Tja, wenn er hier ist, Sweetheart, dann habe ich ihn nicht gesehen. Wo, sagtest du, bist du? Und bist du sicher, daß ich Chris nicht vorbeischicken soll, damit er dich abholt?«
    »Nein, vielen Dank, ich bin ja nicht in Boston. Ich bin ...«
    »Du rufst aus der Schule an?«« fragte sie erschrocken. »Ist etwas nicht in Ordnung, mein Lieber?«
    »Doch, doch, Ma’am, natürlich ist alles in Ordnung.« Für einen Moment verspürte ich den Impuls aufzulegen, aber dazu war es jetzt schon zu spät. »Er ist gestern abend vorbeigekommen, als ich schon sehr müde war; ich hätte schwören können, er sagte, daß er heute nach Boston wollte, aber – oh! Da ist er ja!« sagte ich dämlich und hoffte, daß sie auf den Bluff hereinfallen würde.
    »Wo denn, mein Lieber? Da ?«
    »Ich sehe ihn über den Rasen kommen. Recht herzlichen Dank, Mrs. – äh – Abernathy.« Ich war jetzt sehr verwirrt und konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, wie ihr derzeitiger Ehemann hieß.
    »Nennen Sie mich Olivia, mein Lieber. Geben Sie diesem bösen Jungen einen Kuß von mir und sagen Sie ihm, er soll mich am Sonntag anrufen.«
    Ich verabschiedete mich rasch – inzwischen war mir der Schweiß ausgebrochen – und wollte eben wieder die Treppe hinaufgehen, als Bunny, munter auf einem dicken Klumpen Kaugummi kauend, flotten Schritts durch den hinteren Korridor auf mich zukam. Auf ein Gespräch mit ihm war ich jetzt zuallerletzt vorbereitet, aber es gab kein Entkommen. »Hallo, mein Alter«, sagte er. »Wo ist Henry?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich unsicher nach einer Pause.
    »Ich auch nicht«, sagte er streitsüchtig. »Hab’ ihn seit Montag nicht mehr gesehen. François und die Zwillinge übrigens auch nicht. Hey, mit wem hast du denn da telefoniert?«
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. »Mit Francis«, behauptete ich. »Ich habe mit Francis telefoniert.«
    »Hmn«, sagte er, steckte die Hände in die Taschen und lehnte sich an die Wand. »Von wo hat er denn angerufen?«
    »Aus Hampden, schätze ich.«
    »Kein Ferngespräch?«
    Mein Nacken begann zu prickeln. Was wußte er über diese Sache? »Nein«, sagte ich. »Nicht daß ich wüßte.«
    »Henry hat dir gegenüber nichts vom Verreisen erwähnt, was?«
    »Nein. Warum?«
    Bunny schwieg. Dann sagte er: »In den letzten Tagen hat abends nicht ein einziges Licht gebrannt in seiner Wohnung. Und sein Wagen ist weg. Parkt nirgendwo in der Water Street.«
    Aus irgendeinem seltsamen Grund lachte ich. Ich ging zur Hintertür, die ein Fenster hatte, durch das man auf den Parkplatz hinter den Tennisplätzen hinausschauen konnte. Henrys Wagen stand da, wo ich ihn abgestellt hatte, ganz unübersehbar. Ich zeigte darauf. »Da ist er. Da vorn. Siehst du?«
    Bunnys Unterkiefer mahlte langsamer, und sein Gesicht umwölkte sich bei der Anstrengung des Denkens. »Na, das ist komisch.«
    »Wieso?«
    Eine nachdenkliche pinkfarbene Blase wuchs aus seinem Mund, schwoll langsam an und platzte mit einem Plopp. »Aus keinem besonderen Grund«, sagte er dann munter und kaute weiter.
    »Wieso sollten sie verreisen?«
    Er hob die Hand und schnippte sich das Haar aus den Augen. »Du wärest überrascht«, sagte er fröhlich. »Was hast du jetzt vor, mein Alter?«
    Wir gingen hinauf in mein Zimmer. Unterwegs

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