Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
jetzt beeilen mußte, wenn ich nicht zu spät kommen wollte. Ich raffte meine Bücher zusammen und eilte hinaus; auf halbem Weg zum Lyzeum merkte ich, daß ich rannte, und zwang mich, langsamer zu gehen.
Ich war wieder zu Atem gekommen, als ich die hintere Tür öffnete. Langsam stieg ich die Treppe hinauf; meine Füße bewegten sich, und mein Kopf war seltsam leer – so hatte ich mich als Kind am Weihnachtsmorgen gefühlt, wenn ich nach einer Nacht beinahe rasender Aufregung schließlich durch den Flur auf die geschlossene Tür zugegangen war, hinter der meine Geschenke warteten, als wäre dieser Tag nichts Besonderes: Alles Verlangen war plötzlich vergangen.
Sie waren alle da, alle: die Zwillinge, aufrecht und wachsam auf der Fensterbank, Francis mit dem Rücken zu mir, Henry neben ihm, Bunny auf der anderen Seite des Tisches, zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Er erzählte gerade irgendeine Geschichte. »Und jetzt paßt auf«, sagte er zu Francis und Henry und drehte den Kopf zur
Seite, um einen Blick auf die Zwillinge zu werfen. Alle starrten ihn wie gebannt an; niemand hatte mich hereinkommen sehen. »Der Gefängnisdirektor sagt: ›Mein Sohn, Ihr Gnadengesuch ist vom Gouverneur offensichtlich nicht erhört worden, und die Zeit ist schon seit fünf Minuten um. Wollen Sie noch etwas sagen?‹ Und der Typ überlegt kurz, und als sie ihn schon in die Kammer führen« - er hob seinen Bleistift vor die Augen und betrachtete ihn einen Moment lang –, »da dreht er sich noch mal um und sagt: ›Tja, bei der nächsten Wahl kriegt Gouverneur Soundso meine Stimme jedenfalls nicht !‹« Lachend kippte er mit seinem Stuhl noch weiter zurück, und dann schaute er auf und sah mich wie ein Idiot in der Tür stehen. »Oh, komm doch rein, komm rein!« rief er und ließ die Vorderbeine seines Stuhls mit dumpfem Schlag nach vorn kippen.
Die Zwillinge blickten auf, erschrocken wie zwei Rehe. Von einer gewissen Anspannung des Kiefers abgesehen, wirkte Henry heiter wie Buddha, aber Francis war so bleich, daß er fast grün aussah.
»Wir erzählen grad ein paar Witze vor dem Unterricht«, erklärte Bunny gut gelaunt und lehnte sich mit seinem Stuhl zurück. Er schleuderte die Haarsträhne aus dem Gesicht. »Okay. Smith und Jones begehen einen bewaffneten Raubüberfall und kommen in die Todeszelle. Natürlich ziehen sie die üblichen Revisionsanträge durch, aber Smith ist als erster am Ende, und er soll auf den Stuhl.« Er machte eine resignierte, ja, philosophische Gebärde und zwinkerte mir dann unerwartet zu. »Tja«, fuhr er fort, »sie lassen Jones raus, damit er bei der Hinrichtung zusehen kann, und nun schaut er zu, wie sie seinen Kumpel festschnallen« – ich sah, wie Charles sich mit ausdrucksloser Miene heftig auf die Unterlippe biß –, »als der Gefängnisdoktor raufkommt. ›Was von Ihrem Gnadengesuch gehört, Jones? fragt er. ›Nicht viel, Direktor, sagt Jones. ›Na dann‹, sagt der Direktor und guckt auf die Uhr, ›lohnt sich’s ja kaum noch, in die Zelle zurückzugehen, was?‹« Bunny warf den Kopf in den Nacken und wieherte glücklich und zufrieden. Die anderen verzogen keine Miene.
Als Bunny wieder anfing (»Und dann der aus dem alten Westen – das heißt, damals, als man die Leute noch aufhängte ...«), rutschte Camilla auf der Fensterbank beiseite und lächelte mir nervös zu.
Ich ging hin und setzte mich zwischen sie und Charles. Sie gab mir einen raschen Kuß auf die Wange. »Wie geht’s?« fragte sie. »Hast du dich gefragt, wo wir waren?«
»Nicht zu fassen, daß wir dich nicht gesehen haben«, sagte
Charles leise. Er wandte sich mir zu und legte den Fußknöchel auf das Knie. Sein Fuß zitterte heftig, als führe er ein Eigenleben, und Charles legte die Hand darauf, um ihn zur Ruhe zu bringen. »Wir hatten da ein schreckliches Mißgeschick mit dem Apartment.«
Ich wußte nicht, was ich von ihnen zu hören erwartet hatte, aber das nun ganz gewiß nicht. »Inwiefern?« fragte ich.
»Wir haben den Schlüssel in Virginia vergessen.«
»Tante Mary-Gray mußte den ganzen Weg bis Roanoke fahren, um ihn per Federal Express herzuschicken.«
»Ich dachte, ihr hättet es untervermietet?« sagte ich mißtrauisch.
»Er ist vor einer Woche abgereist. Idiotischerweise haben wir ihm gesagt, er soll uns den Schlüssel mit der Post zuschicken. Und die Hauswirtin ist in Florida. Da waren wir die ganze Zeit bei Francis auf dem Land.«
»Wie Ratten im Käfig.«
»Francis fuhr hinaus, und ungefähr
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