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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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zwei Meilen vor dem Haus passierte etwas Schreckliches mit dem Wagen«, erzählte Charles. »Schwarzer Qualm und mahlende Geräusche.«
    »Die Lenkung fiel aus. Wir fuhren in den Graben.«
    Beide redeten sehr hastig. Für einen Moment erhob sich Bunnys Stimme durchdringend über ihre: » ... nun hatte dieser Richter ein spezielles System, an das er sich gern hielt. Montags hängte er einen Viehdieb auf, dienstags einen Falschspieler, mittwochs ...«
    » ... und deshalb mußten wir zu Fuß zu Francis gehen«, sagte Charles. »Tagelang haben wir bei Henry angerufen, damit er uns abholt. Aber er ging nicht ans Telefon – du weißt ja, wie es ist, wenn man ihn erreichen will ...«
    »Und es gab nichts zu essen bei Francis – nur ein paar Dosen schwarze Oliven und eine Schachtel Bisquick. «
    »Ja. Da haben wir uns von Oliven und Bisquick ernährt.«
    Konnte das wahr sein? fragte ich mich plötzlich. Für einen kurzen Moment heiterte es mich auf – Gott, wie blöd ich gewesen war –, aber dann fiel mir ein, wie Henrys Apartment ausgesehen hatte, und ich mußte an die Koffer an der Tür denken.
    Bunny drehte inzwischen zum großen Finale auf. »Da sagt der Richter: ›Mein Junge, es ist Freitag, und ich würde dich mit Vergnügen aufhängen, aber damit werde ich bis Dienstag warten müssen, weil ... ‹«
    »Nicht mal Milch war da«, sagte Camilla. »Wir mußten das Bisquick mit Wasser anrühren.«
    Jemand räusperte sich leise. Ich blickte auf und sah Julian, der eben die Tür hinter sich schloß.
    »Du liebe Güte, Sie schwatzhafte Elstern«, sagte er in die abrupte Stille, die sich über den Raum legte. »Wo sind Sie nur alle gewesen ?«
    Charles hustete und blickte starr auf einen Punkt am anderen Ende des Zimmers; dann begann er ziemlich mechanisch die Geschichte von dem Schlüssel und dem Wagen im Graben und den Oliven und dem Bisquick zu erzählen. Die Wintersonne fiel schräg durchs Fenster herein und verlieh allem ein eisiges, überscharf konturiertes Aussehen; nichts erschien real, und ich fühlte mich wie in einem komplizierten Film, bei dem ich den Anfang verpaßt hatte, so daß ich nun nicht recht begriff, worauf alles hinauslaufen sollte. Bunnys Knastwitze hatten mich aus irgendeinem Grund durcheinandergebracht, obwohl ich mich erinnerte, daß er früher, im vergangenen Herbst, eine ganze Menge solcher Witze erzählt hatte. Sie waren damals wie jetzt mit angespanntem Schweigen aufgenommen worden, aber es waren ja auch alberne, schlechte Witze.
    »Wieso habt ihr mich nicht angerufen?« fragte Julian verwundert und vielleicht auch ein bißchen gekränkt, als Charles seine Geschichte beendet hatte.
    Die Zwillinge schauten ihn verständnislos an.
    »Darauf sind wir nicht gekommen«, sagte Camilla.
    Julian lachte und rezitierte einen Aphorismus von Xenophon, der im wörtlichen Sinne von alten Zelten und Soldaten und dem nahen Feind handelte, in übertragener Bedeutung aber besagte, in unruhigen Zeiten wende man sich am besten an seine eigenen Leute um Hilfe.
     
    Nach dem Unterricht ging ich allein nach Hause, verwirrt und aufgewühlt. Inzwischen waren meine Gedanken derart widersprüchlich und beunruhigend, daß ich nicht einmal mehr Spekulationen anstellen konnte, sondern nur noch benommen wahrnahm, was um mich herum vorging. Ich hatte an diesem Tag keinen Unterricht mehr, und den halben Nachmittag lag ich auf dem Bett und starrte an die Decke und versuchte mir zu überlegen, was ich als nächstes tun sollte, als es plötzlich an der Tür klopfte.
    Es war Henry. Ich machte die Tür ein Stückchen weiter auf und starrte ihn an und sagte nichts.
    Er erwiderte meinen Blick fest und mit geduldiger Unbekümmertheit.
Er sah gleichmütig und gelassen aus und hatte ein Buch unter dem Arm.
    »Hallo«, sagte er.
    Wieder trat eine Pause ein, länger als die erste. »Hi«, sagte ich dann.
    »Wie geht’s?«
    »Prima.«
    »Gut.«
    Wieder langes Schweigen.
    »Hast du heute nachmittag was vor?« fragte er höflich.
    »Nein«, sagte ich verdutzt.
    »Hättest du Lust, mit mir spazierenzufahren?«
    Ich holte meinen Mantel.
     
    Als Hampden hinter uns lag, verließen wir den Highway und bogen auf eine Kiesstraße ein, die ich noch nie gesehen hatte. »Wo fahren wir hin?« fragte ich etwas unbehaglich.
    »Ich dachte, wir fahren mal raus und schauen uns einen Nachlaßverkauf an der Old Quarry Road an«, sagte Henry kühl.
     
    Ich war einigermaßen überrascht, als die Straße uns schließlich, etwa eine Stunde später,

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