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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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verblaßte im Westen, und Eschen und Eiben warfen lange Schatten über den Schnee, und mir war, als wäre ich gerade erst aufgewacht und stellte gerädert und desorientiert fest, daß es dunkel wurde und ich den Tag verschlafen hatte.
    Es gab das große Semestereröffnungsdinner an diesem Abend – Roastbeef, grüne Bohnen almondine, Käsesouffle und irgendein raffiniertes Linsengericht für die Vegetarier. Ich aß allein an demselben Tisch, an dem ich auch gefrühstückt hatte. Die Speisesäle waren gerammelt voll; alles lachte, rauchte und zwängte sich auf Extrastühlen um vollbesetzte Tische; Leute mit vollen Tellern wanderten von Gruppe zu Gruppe, um hallo zu sagen. Am Nachbartisch saßen lauter Kunststudenten, erkennbar an ihren tuscheverkrusteten Fingernägeln und den bewußt zur Schau getragenen Farbspritzern auf der Kleidung; einer von ihnen zeichnete mit einem schwarzen Filzstift etwas auf eine Stoffserviette, und ein anderer aß eine Schale Reis mit umgedrehten Pinseln anstelle von Eßstäbchen. Ich hatte sie alle noch nie gesehen. Als ich so meinen
Kaffee trank und mich im Speiseraum umschaute, erkannte ich plötzlich, daß Georges Laforgue recht gehabt hatte: Ich war wirklich wie abgeschnitten vom restlichen College – nicht, daß ich im großen und ganzen gesehen Lust gehabt hätte, mit Leuten auf vertraulichem Fuße zu verkehren, die Malpinsel als Besteck benutzten.
    In der Nähe meines Tisches bemühten sich zwei Neandertaler, als gehe es um Leben und Tod, Geld für eine Bierfaßparty im Bildhaueratelier zu sammeln. Tatsächlich kannte ich die beiden sogar; es war unmöglich, in Hampden zu sein, ohne sie zu kennen. Der eine war der Sohn eines bekannten Gangsterbosses von der Ostküste; der Vater des anderen war Filmproduzent. Die beiden waren Vorsitzender und Vizevorsitzender des Studentenrates, und sie benutzten ihre Ämter hauptsächlich dazu, Kampftrinkerveranstaltungen, Nasse-T-Shirt-Wettbewerbe und Schlammringerturniere für Frauen zu organisieren. Sie waren beide weit über eins achtzig groß – offene Mäuler, unrasiert, dumm, dumm, dumm: Kerle von der Sorte, die von Frühlingsbeginn an niemals ins Haus gingen, sondern von früh bis spät mit nacktem Oberkörper auf dem Rasen herumlungerten, ausgerüstet mit Styropor-Kühltasche und Kassettendeck. Sie galten weithin als gute Jungs, und vielleicht waren sie auch anständig genug, wenn man ihnen seinen Wagen zum Bierholen lieh oder ihnen Pot verkaufte oder so was. Aber beide – vor allem der Gangstersohn – hatten ein schweinehaftes, schizophrenes Glitzern im Blick, das mir überhaupt nicht gefiel. »Party Pig« nannten die Leute ihn, und das ohne große Zärtlichkeit; aber ihm gefiel der Name, und es erfüllte ihn mit einer Art dummem Stolz, ihm gerecht zu werden. Er war ständig dabei, sich zu betrinken und irgend etwas anzustellen, beispielsweise Feuer zu legen, Erstsemester in den Kamin zu stopfen oder leere Bierflaschen durch die Fensterscheiben zu schmeißen.
    Party Pig (alias Judd) und Frank nahmen jetzt Kurs auf meinen Tisch. Frank hielt mir eine Farbdose voller Kleingeld und zerknüllter Scheine entgegen. »Hi, Typ«, sagte er. »Faßparty im Bildhaueratelier, heute abend. Was spenden?«
    Ich stellte meine Kaffeetasse hin und fischte in meiner Jackentasche herum, bis ich einen Vierteldollar und ein paar Cents gefunden hatte.
    »Aach, komm schon, Mann«, sagte Judd ziemlich drohend, wie ich fand. »Das kannst du doch wohl besser.«
    Hoi polloi. Barbaroi . »Sorry«, sagte ich, schob meinen Stuhl zurück und ging.
    Ich kehrte in mein Zimmer zurück, setzte mich an meinen Schreibtisch und schlug das Lexikon auf, aber ich schaute nicht hinein. »Argentinien?« sagte ich und starrte an die Wand.
     
    Am Freitag morgen ging ich zum Französischkurs. Etliche Studenten dösten im hinteren Teil des Raumes, zweifellos übermannt von den Festlichkeiten des vergangenen Abends. Der Geruch von Desinfektionsmittel und Tafelreiniger im Verein mit den flirrenden Leuchtstoffröhren und dem monotonen Singsang der Verben im Konditional versetzte auch mich in eine Art Trance; leise schwankend vor Langeweile und Müdigkeit saß ich an meinem Pult und merkte kaum, wie die Zeit verging.
    Nach dem Kurs ging ich nach unten zum Münztelefon und rief Francis’ Nummer auf dem Lande an. Ich ließ es vielleicht fünfzigmal klingeln. Niemand meldete sich.
    Ich lief durch den Schnee zurück zum Monmouth House, und auf meinem Zimmer dachte ich nach – oder,

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