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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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auch nicht. Wie ein Toter. Und ohne zu träumen.«
    »Ich kann dir nicht sagen, wie durcheinander ich am Ende war«, sagte Francis. »Die Sonne ging auf, als ich einschlief, und mir war, als hätte ich gerade die Augen zugemacht, als ich sie wieder aufschlug, und da war es dunkel, und ein Telefon klingelte, und ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Es klingelte und klingelte, und irgendwann stand ich auf und tastete mich in den Flur. Jemand sagte: ›Nicht rangehen‹, aber ...«
    »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so sehr darauf versessen ist, ans Telefon zu gehen«, bemerkte Henry. »Selbst in einem fremden Haus.«
    »Na, was soll ich denn machen? Klingeln lassen? Jedenfalls, ich nahm den Hörer ab, und es war Bunny, munter wie eine Lerche. Mann, wir vier wären vielleicht in einem saumäßigen Zustand gewesen, und ob wir jetzt eine Bande Nudisten geworden wären oder was, und wie wär’s, wenn wir alle zusammen in die Brasserie gingen, um zu Abend zu essen?«
    Ich richtete mich im Sessel auf. »Moment«, sagte ich. »War das der Abend ... ?«
    Henry nickte. »Du bist mitgekommen«, sagte er. »Weißt du noch?«
    »Natürlich«, sagte ich, und es erfüllte mich mit unerklärlicher Erregung, daß die Geschichte sich endlich mit meinen eigenen Erlebnissen zusammenfügte. »Natürlich. Ich habe Bunny auf dem Weg zu euch getroffen.«
    »Wenn du erlaubst, daß ich es sage: Wir waren alle ein bißchen überrascht, als er mit dir aufkreuzte«, sagte Francis.
    »Naja, vermutlich wollte er uns irgendwann allein sprechen und erfahren, was passiert war; aber es war nichts, was nicht warten konnte«, meinte Henry. »Ich habe ja bereits gesagt, daß ihn unser Aussehen nicht ganz so befremdete, wie man vielleicht hätte meinen sollen. Er war schließlich schon mit uns zusammengewesen, weißt du, in ähnlich wilden Nächten.«
    Voller Unbehagen dachte ich an die bakchai : Hufe und blutige Gerippe, Fetzen, die an Fichten baumelten. Es gab ein Wort dafür im Griechischen: omophagia. Plötzlich sah ich es wieder vor mir:
wie ich in Henrys Wohnung gekommen war, und all die müden Gesichter und Bunnys hämische Begrüßung: »Chairete , ihr Wildtöter!«
    Sie waren still gewesen an diesem Abend, still und blaß – allerdings nicht schlimmer, als bei Leuten mit einem besonders schweren Kater bemerkenswert gewesen wäre. Nur Camillas Laryngitis kam mir ungewöhnlich vor. Sie waren am Abend zuvor betrunken gewesen, erzählten sie mir, betrunken wie die Freibeuter. Camilla habe ihren Pullover zu Hause vergessen und sich auf dem Rückweg nach North Hampden erkältet. Draußen war es dunkel, und es regnete heftig. Henry gab mir die Wagenschlüssel und bat mich zu fahren.
    Es war Freitag abend, aber das Wetter war so schlecht, daß die Brasserie fast leer war. Wir aßen Welsh Rarebits und lauschten dem Regen, der draußen in Böen auf das Dach prasselte. Bunny und ich tranken Whiskey mit heißem Wasser, die anderen Tee.
    »Ist euch flau, bakchoi ?« fragte Bunny verschlagen, als der Kellner unsere Getränkebestellung aufnahm.
    Camilla schnitt eine Grimasse.
    Als wir nach dem Essen hinausgingen, umrundete Bunny das Auto, inspizierte die Scheinwerfer, trat gegen die Reifen. »Ist das der Wagen, mit dem ihr letzte Nacht unterwegs wart?« fragte er und blinzelte durch den Regen.
    »Ja.«
    Er strich sich das nasse Haar aus der Stirn und bückte sich, um den Kotflügel zu untersuchen. »Deutsche Autos«, sagte er. »Ich sag’s ungern, aber ich glaube, die Krauts stecken die Detroiter Karren in den Sack. Ich sehe keinen Kratzer.«
    Ich fragte ihn, was er damit meinte.
    »Ach, die sind besoffen rumgefahren. Haben auf öffentlichen Straßen die Sau rausgelassen. ’n Reh angefahren. Habt ihr’s umgebracht?« fragte er Henry.
    Henry ging eben zur Beifahrerseite hinüber; er blickte auf. »Was sagst du?«
    »Das Reh. Habt ihr’s umgebracht?«
    Henry machte die Tür auf. »Für mein Gefühl sah es ziemlich tot aus«, sagte er.
     
    Es war lange still. Mir brannten die Augen von all dem Rauch. Ein dicker grauer Dunstschleier hing unter der Deckel.
    »Und was ist das Problem?« fragte ich.
    »Wie meinst du das?«
    »Was ist passiert? Habt ihr es ihm erzählt oder nicht?«
    Henry holte tief Luft. »Nein«, sagte er. »Wir hätten es vielleicht getan, aber natürlich – je weniger Leute Bescheid wußten, desto besser. Als ich ihn das erstemal allein erwischte, brachte ich es vorsichtig zur Sprache, aber er schien sich mit der Rehgeschichte

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