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Die geheime Mission des Nostradamus

Titel: Die geheime Mission des Nostradamus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle Riley
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begann, in mehreren unbekannten Zungen zu psalmodieren, war die Königin so beeindruckt, daß sie ihn nicht zu unterbrechen wagte. Schließlich konnte sie in dem furchteinflößenden Durcheinander aus übernatürlichen Sprachen etwas Französisch ausmachen: O Roi éternel! O Ineffable! Daignez envoyer à votre serviteur très indigne votre ange Anael sur ce miroir… Ah, endlich, er ruft Anael herbei, dachte sie am ganzen Leib zitternd. Wie mächtig, wie gefährlich ist dieser Nostradamus, wenn er so erhabene Wesen aus der anderen Welt herbeirufen kann!
    Der Spiegel, auf einmal fing der Spiegel an, sich ohne menschliches Zutun zu bewegen. Er lehnte nicht länger am Kamin, sondern stand kerzengerade, als ob er von einer unsichtbaren Kraft gehalten würde. Dann hob ihn ein Schatten, der wie eine Riesenhand aussah, in die Höhe und neigte ihn, so als wollte er eine andere Welt, eine Welt jenseits des Turmzimmers widerspiegeln. Rings um den Spiegel erblickte sie seltsame funkelnde Lichter, die vor einem mitternachtsblauen Hintergrund wirbelten und glitzerten. Ein Gesicht… War das ein Gesicht da oben an der hohen Decke? Ein riesiges Gesicht, schön und erschreckend, starrte sie mit uralten gelben Augen an…
    »Zeige uns, o Anael, das Schicksal des französischen Throns«, intonierte Nostradamus.
    Daraufhin zeigte der Spiegel einen schwarzen Raum, der mit seltsamen Gobelins in der Farbe geronnenen Blutes behangen war. Diesen Raum betrat der kleine Franz, der in seinen brandneuen Krönungskleidern fast versank, mit der rechten Hand das Zepter Frankreichs umklammerte und genauso aussah wie in der Kathedrale. Siebzehn, und noch immer lief ihm die Nase.
    »Mein Sohn, der König«, flüsterte Katharina von Medici. Feierlich drehte der Knabe eine Runde in dem blutfarben drapierten Raum. »Was bedeutet das?« flüsterte sie.
    »Schsch!« mahnte Nostradamus. Ein zweites Phantom war im Spiegel aufgetaucht. Ihr Sohn Karl, kaum älter als zum gegenwärtigen Zeitpunkt, vielleicht zehn, vielleicht ein Jahr älter, schwankend unter dem Gewicht der Krone Frankreichs, das Zepter in der Hand, die Gewänder zu lang für seine schmächtige kleine Gestalt. Auch er drehte auf dem polierten Metall wortlos seine Runde… Einmal, zweimal, dreimal zählte die Königin; sie zählte bis vierzehn, dann verschwand Karl. Jählings begriff sie, welch schrecklichen Streich Menander ihr gespielt hatte, wie er ihr ihren Herzenswunsch erfüllte. Und wie als Bestätigung ihres Gedankens erschien ein drittes Phantom im Spiegel. Ein gutaussehender junger Mann, ein Geck mit Diamantohrringen. Auf seinem Kopf wirkte die Krone wie Talmi. Seine Augen waren schmal, die Miene bösartig und berechnend. Wer war das? Doch ihr Mutterherz wußte es. Heinrich, ihr Liebling, ihr schönes Kind, war zu solch einem Mann herangewachsen. Mit kleinen Schritten drehte er seine Runden im Zimmer. Fünfzehnmal zählte sie, dann war auch die Vision entschwunden. Menander, du Ungeheuer, dachte die Königin. Du hast all meine Söhne zu Königen in ein und demselben Land gemacht. Alle werden jung sterben. Franz wird nur ein Jahr regieren und dann sterben. Dann wird Karl vierzehn Jahre lang regieren – das bedeutet, daß er das dreißigste Jahr nicht erreicht. Und Heinrich. Mein entzückender, bezaubernder, schöner kleiner Heinrich. Ihr Herz fühlte sich an wie Stein und wurde schwerer und schwerer. Aber wo bleibt Hercule? dachte sie. Der nächste muß Hercule sein oder ein Enkelkind.
    Ja, ein Enkel. Zeige mir, daß all meine Bemühungen nicht umsonst gewesen sind.
    Zunächst erkannte sie die Gestalt im Spiegel nicht. Gedrungen und drahtig, der Schritt knapp und federnd, dem Gesicht nach kein Valois. Aber die Nase… Die Nase des alten Königs Franz, nein, die seiner Schwester im Gesicht von… Nein! Lieber Gott, das mußte – der Sohn des Königs von Navarra und dieser aufgeblasenen, bigotten Protestantin Jeanne d'Albret sein! Die Bourbonen hatten den Thron übernommen! »Nein!« rief die Königin. »Niemals!«
    »Könnt Ihr denn nicht still sein?« zischte Nostradamus. »Da seht Euch an, was Ihr angerichtet habt. Zweiundvierzig Tage der Reinigung, und Ihr verderbt mir den Zauberspiegel.«
    Es stimmte. Schon stand der Spiegel wieder auf dem Kaminsims und spiegelte nichts weiter als die verputzten Ziegelsteinwände der Astrologenkammer. Aus dem Kohlebecken stieg weiterhin Rauch auf, der Mond war untergegangen, und nur die heruntergebrannten Kerzen auf dem Arbeitstisch, dem

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