Die geheime Mission des Nostradamus
ich möchte Euch das Geheimnis aller Zeiten anvertrauen«, unterbrach Nostradamus den Redefluß. »Bei meinen wissenschaftlichen Studien als junger Mensch nach einer leidigen Unterbrechung, über die ich nicht gern rede, wollte ich das Geheimnis des Glücks entdecken, denn das ist das wichtigste aller Geheimnisse…«
»Ja, natürlich«, sagte Nicolas. Alte Männer, sie schwatzen und schwatzen, und man muß so tun, als ob man ihnen zuhört. Denn das gebietet die Achtung.
»Das erste Geheimnis heißt, den richtigen Lebensgefährten zu finden. Das zweite, man sollte einen interessanten Beruf ergreifen, und das dritte, Gutes zu tun, wann immer sich die Gelegenheit bietet.«
»Das sind aber drei Geheimnisse Maestro.«
»Im umfassenderen Sinne handelt es sich nur um eines, wenn Ihr darüber nachdenkt, junger Mann. Nur um eines. Und das eine heißt Liebe.«
»Liebe?« Bei diesem Wort spitzte Nicolas die Ohren.
»Ja, Liebe. Zu anderen, zur Welt, zur Weisheit, zu dem, was man mit seinem Leben anfängt: einfach Liebe, aber recht umfassend ausgelegt, wie Ihr merkt…«
»Das ist, ja, das ist wirklich ein Geheimnis«, sagte Nicolas höflich. Der alte Doktor ist ein wenig wunderlich geworden, dachte er. Zu oft zu spät ins Bett gekommen.
»Ja, in der Tat ein Geheimnis, obwohl man es von den Dächern rufen kann«, fuhr Nostradamus fort. »Aber ich darf mich nicht beklagen. Ein weitaus größerer Prophet als ich hat versucht, der Welt das gleiche zu sagen, aber auf Ihn hat auch keiner gehört…«
Doch in diesem Augenblick riß ein Kammerdiener die Tür der Astrologenkammer auf und kündigte die Königin von Frankreich an. Als Nostradamus aufblickte, bot sich ihm ein ungemein angenehmer Anblick, einer, der sein ganzes hinterlistiges Mühen wettmachte und ihm das gefällige Gefühl vermittelte, in der Tat sehr klug zu sein. »Ei, Nicolas, Eure Herzallerliebste sucht Euch, und sie schaut nicht übel aus, wenn Ihr mir diese Bemerkung erlaubt«, sagte er mit einem Schmunzeln.
Doch Nicolas war bereits aufgesprungen, und sein Gesicht war verwandelt vor Freude. Mit einem Aufschrei liefen er und Sibille aufeinander zu und fielen sich in die Arme, weinten und jubelten und machten ganz den Eindruck, als könnten sie sich nie mehr voneinander trennen.
Angesichts dieses Glücks der jungen Leute verfinsterte sich die Miene der Königin, und ein böses Glitzern trat in ihre Augen.
Nostradamus, dem nichts entging, verbeugte sich tief vor ihr. »Erhabene Königin, Euch steht ein hoher Platz in den Annalen Frankreichs zu, ein noch höherer jedoch in den geheimen Annalen des Okkultismus, denn Ihr habt den Unbesiegbaren mittels Eurer mächtigen Gabe besiegt.« Innerlich seufzte er vor Erleichterung, als er sah, wie das böse Glitzern verschwand.
»Mächtige Gabe? Den Unbesiegbaren besiegt? Ich habe mir nur eines vom Leben ersehnt, nämlich die Liebe meines Gemahls, des Königs, und das Ding im Kasten hat mir für immer alle Hoffnung genommen.«
»Noch ist nicht alle Hoffnung verloren, Majestät«, beschwor Nostradamus sie, obwohl er wußte, daß es so war. »Solange Ihr lebt und wirkt, gibt es Hoffnung. Gottes Auge sieht alles.«
»Gott? Und wo war Gott, als das Visier verrutscht ist?« Bei diesen Worten verspürte Nostradamus ein beklemmendes Gefühl, und als er ihre Aura betrachtete, wußte er warum. Doch da er ein Philosoph von höchsten Graden war, ließ er sich nichts anmerken, sondern blickte gelassen und unbefangen. Was er sah, war dies: ein sich windender geblähter Beutel ähnlich einer Larve, die sich verwandeln will, ähnlich dem Ei einer Giftschlange, dessen Innenleben ans Licht drängt. Menanders letztes Geschenk, dachte der Prophet; das Blut stockte ihm in den Adern, und die Nackenhaare standen ihm zu Berge. Menander hat dieses Ungeheuer erschaffen und es mitten in die Geschichte plaziert, und seine bösen Taten werden sich durch Zeit und Raum ausdehnen, wie Wasserringe auf einem Teich. Er sah die Straßen von Paris, auf denen sich Leichen von Männern, Frauen und Kindern türmten; Wahnwitzige mit Messern und Schwertern – auf Befehl dieser Königin angestachelt – rannten wie Wilde inmitten der Leichen herum. Und die Seine, die rot war von Blut.
Ich muß, glaube ich, nach Haus, sagte Nostradamus bei sich. Mein Häuschen wird mir jetzt noch schöner vorkommen als je zuvor. Er holte tief Luft und musterte das Zimmer. Sibille und Nicolas, die Kammerdiener und Dienstboten, niemand schien etwas von dem blutigen Gemetzel
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