Die geheime Reise der Mariposa
von einem, der Leute an Bäume fesselt.«
Er seufzte. »Aber mein Wasser, das hast du getrunken. Marit, eines Tages wirst du verstehen, warum ich tun musste, was ich getan habe. Mit diesem Jungen. Morgen früh wird er erschöpft genug sein, um mir zu sagen, wo die Karte ist.«
»Da war Blut in seinem Haar. Du hast ihn geschlagen.«
»Ich dachte, er hätte dir etwas getan.« Er beugte sich vor, legte seine Hände auf ihre Schultern und schüttelte sie. »Begreifst du noch immer nicht? Ich habe meine Schwester verloren, und du bist alles, was von ihr geblieben ist. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustoßen würde.«
»Dann kannst du mich ja verstehen«, sagte Marit. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn meinem Bruder etwas zustoßen würde.«
»Du hast keinen Bruder.«
»Oh doch«, sagte Marit. »Und er sitzt auf Marchena fest, ohne Wasser und ohne Nahrung, mit Blut in seinem Haar.«
Lied der roten Strandkrabbe
Bin nur ein Farbklecks auf dem Stein,
rot, orange und blau.
Bin nur ein Farbklecks auf dem Stein
und würd so gern was andres sein,
bedeutend, groß und schlau.
Ich recke meine Fühler
und bestieläuge die Welt.
Ich recke meine Fühler
und fühle, wann das Wasser kühler
wird und Regen fällt.
Mehr hat man mir nicht beigebracht,
nicht einmal, geradeaus zu gehn.
Mehr hat man mir nicht beigebracht,
ich laufe seitwärts, Tag und Nacht,
auf zu viel Beinen ohne Zeh’n.
Du, Mensch, nennst nur zwei Beine dein,
bist kaum ein Klecks in dieser Welt.
Du, Mensch, nennst nur zwei Beine dein
und würdest gern bedeutend sein
und wärst so gern ein Held.
Cautivos del fuego
Gefangene des Feuers
I
n dieser Nacht schlief Marit in der winzigsten aller Kajüten auf einer Matratze aus Segeltuch. Nein. Sie schlief nicht. Sie blieb wach.
Durch das Steuerbordfenster konnte sie die helle Linie des Strands sehen und darauf die plumpen, dunklen Körper der schlafenden Seelöwen. Kleine Schatten huschten vorbei – Strandkrabben. Sie wusste, dass ihre Scheren und Panzer rot waren wie das Feuer der erloschenen Vulkane. Das Fenster war breit und flach, das Glas eingepasst in den schwarzen Rahmen einer schützenden Gummilasche, die dem Bild des Strands etwas wie einen Trauerrand verlieh. Der Rahmen rückte den Strand dort draußen weit weg, als wäre das Fenster gar kein Fenster, sondern nur ein Bild … ein Bild, dessen Teil Marit nie wieder werden konnte.
Von draußen hörte sie Waterwegs ruhige Atemzüge, nur durch das dünne Holz einer kleinen Tür von ihr getrennt. Er hatte sich dort auf den Boden gelegt, ohne Matratze, ohne Schutz vor dem kühlen Wind, der jetzt übers Wasser strich. Er hatte eine Flasche Wasser und einen Teller mit zwei belegten Broten auf das winzige Regalbrett unter dem Steuerbordfenster gestellt. Er hatte ihr eine Wolldecke gegeben. Er hatte alles getan, damit sie es bequem hatte.
Marit saß aufrecht in der Nacht, die Arme um die Knie geschlungen, und hasste all diese Bequemlichkeit, denn an Land gab es jemanden, der es nicht bequem hatte. Jemanden, der Angst vor dem Morgen hatte.
»Was wird geschehen?«, hatte Marit gefragt, »wenn der Morgen kommt?«
»Dann wird mir der kleine Held an Land sagen, wo er die Karte versteckt hat«, hatte Waterweg geantwortet, mit einem seltsam traurigen Lächeln. »Dann wird er durstig genug sein. Und wir werden zurücksegeln, nach Isabela. Wenn Casaflora den Motor nicht mehr hinbekommt, nehmen wir ihn mit.«
»Und José?«
»Was denkst du denn? Denkst du, ich lasse ihn hier verdursten?«
»Ja«, hatte Marit geantwortet, »das denke ich.«
»Unsinn. Ich nehme ihn auch mit. Hast du nicht gesagt, er lebt auf Isabela? Wir bringen ihn dorthin zurück, wo er hingehört. Und dann wirst du ihn vergessen. Ich wünsche mir – wirklich –, dass du hier ein neues Leben beginnst, irgendwie. Aber dieser José – er lebt in einer Welt, zu der du keinen Zugang hast, zwischen Maniokstauden und Fischernetzen. Deine Familie hat zwischen Büchern und Bildern gelebt. Er ist nicht dein Bruder, und du bist nicht seine Schwester, und es kann niemals so sein.«
Dann hatte er den Riegel vor die Kajütentür gelegt. »Ich habe Angst«, hatte er gesagt, »dass du Dummheiten machst. Dass du diesen Jungen befreist. Du verstehst nicht, warum er mir sagen muss, wo die Karte ist. Eines Tages werde ich es dir erklären. Verzeih mir.«
Marit hatte nicht geantwortet. Sie würde Waterweg niemals verzeihen. Nicht, dass er lebte und ihr Vater tot war. Nicht, dass
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