Die geheime Reise der Mariposa
an ihren Kleidern hinunter, sprang in den Sand und lief zum Meer zurück. Dort sah sie sich einmal nach Marit um und sprang ins Wasser. Marit verlor Carmens kleinen Kopf auf den Wellen bald aus den Augen. Auch Carmen schwamm von der Insel weg, und Uwe der Leguan folgte ihr. Die handtellergroßen Strandkrabben liefen unruhig am Ufer auf und ab wie riesige, verwirrte Spinnen.
Etwas war nicht in Ordnung.
Jene Nacht auf Marchena war die längste in Josés Leben. Die Minuten krochen vorbei wie träge Schnecken, trockene Minuten, die in seiner Kehle brannten. Als die Sonne im Pazifik versunken war, war er dankbar für die Kühle gewesen, die der Abend brachte. Doch irgendwann hatte er begonnen zu zittern.
Er sah das Meer nicht durch die Büsche. Aber irgendwo dort draußen war es, und dort saß Marit auf einem fremden Schiff und konnte so viel Wasser trinken, wie sie wollte. Sie war nicht mehr seine Schwester. Sie war jetzt Waterwegs Nichte. Und Waterweg war ein Feind. Wie rasch sich die Dinge ändern konnten! Er riss an der Schnur, die die Handgelenke hinter seinem Rücken an den Baum fesselte, und verbiss sich einen Schmerzensschrei. Gerade die Tatsache, dass sie so dünn war, machte die Schnur gefährlich. José wusste nicht, wie oft Waterweg sie um seine Gelenke gewickelt hatte, aber es fühlte sich an, als schnitten tausend Messer in sein Fleisch.
Er versuchte zu schlafen, doch vor seinen geschlossenen Augen zogen Bilder von Wasser vorbei: ein Süßwassersee, der bis zum Horizont reichte … Schließlich schlief er wohl doch ein, denn er träumte. In seinem Traum kam Juan Casaflora durch die Büsche, kniete sich vor ihn hin und sah ihn an. José konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht genau erkennen. Er zuckte zusammen, als Casafloras tastende Hände über seine Handgelenke strichen und die Fesseln fanden. Casaflora schnalzte mit der Zunge und schüttelte mitleidig den Kopf.
Und dann setzte er eine Flasche an Josés Lippen. Wasser! José trank gierig, trank sich voll mit Leben, und sein Kopf wurde klarer. Zu klar für einen Traum.
»Ich träume gar nicht«, sagte er. »Sie sind wirklich hier.«
Casaflora nickte. »Ja, ich bin hier, mein Junge. Aber ich werde die Schnur um deine Hände nicht durchschneiden. Waterweg wüsste, wer es getan hat. Ich bin alt, aber vorläufig habe ich keine Lust, von ihm erschossen zu werden.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte José.
Casaflora lachte. »Jung genug, um noch ein Weilchen zu leben.«
»Wenn der Morgen kommt und ich Waterweg nicht sage, wo die Karte ist, wird er mich erschießen.«
Casaflora zuckte die Schultern. »Sag es ihm.«
José schüttelte den Kopf. »Damit er sie findet? Damit sie doch noch in die Hände der Deutschen fällt? Bestimmt nicht. Ist … ist der Motor wieder heil?«
»Nein. Und ich weiß nicht, ob er es jemals wird.«
»Wenn alles anders wäre … dann könnten Sie mich losschneiden«, sagte José leise. »Wir könnten mit der Mariposa davonsegeln. Waterweg würde es erst am Morgen merken. Wir hätten keinen Motor, aber wir würden es irgendwie schaffen. Zur Isla Maldita auf jeden Fall.«
»Ja«, sagte Casaflora. »Wenn alles anders wäre. Aber das ist es nicht. Die Rollen sind verteilt, schon vergessen? Ich bin der böse alte Mann.« Er stand auf und wandte sich zum Gehen.
»Warten Sie«, bat José. »Damals, im Wald auf Santiago – waren Sie es, der mich niedergeschlagen hat?«
»Ich? Auf Santiago?« Casaflora schüttelte den Kopf. »Ich war die ganze Zeit auf der Mariposa. Ich habe sie aus den Felsen befreit, als der Wind gedreht hat, weißt du nicht mehr?«
José versuchte über die Sache auf Santiago nachzudenken, doch jetzt, wo er getrunken hatte, wurde der Schlaf übermächtig. Er hörte noch, wie Casafloras Schritte sich entfernten, dann hörte er lange nichts mehr. Als er aufwachte, bebte der Boden. Und er wusste, dass etwas auf der Insel nicht stimmte. Er sah die Leguane aus dem Busch fliehen und über den Strand zum Meer laufen, obwohl es Nacht war. Er sah die Vögel aufsteigen. Etwas würde geschehen. Bald. Zu bald.
Waterweg käme erst am Morgen wieder. Und José hatte plötzlich das bestimmte Gefühl, dass es am Morgen zu spät sein würde. Er riss noch einmal an seinen Fesseln.
Sie hielten.
Die Angst packte ihn mit eisernen Klauen.
»Abuelita«, flüsterte er. »Abuelita, wo bist du? Sag etwas! Erzähl etwas! Irgendetwas, um mich abzulenken. Wo bist du, wenn man deine Märchen einmal brauchen könnte?«
Doch die Abuelita
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