Die geheime Reise der Mariposa
er sie aus Deutschland herausgeholt hatte, als sie nicht herausgeholt werden wollte. Und auch nichts sonst. Er war schuld daran, dass José sie mit funkelndem Hass in den Augen angesehen hatte. Wütend und unverzeihend kauerte sie in der Nacht, Stunde um Stunde.
Sie fragte sich, ob sie die dünne Holztür mit ihren Fäusten zertrümmern könnte. Doch es würde nichts nützen. Der Lärm würde Waterweg wecken. Sie saß fest, sie war ein Gefangener, genau wie José. Nicht einmal Carmen war noch bei ihr. Sie hatte auf dem Weg zur Mari Nocturna noch in ihrem Ärmel gesessen, doch irgendwann musste sie unbemerkt hinausgeschlüpft sein. Uwe der Leguan war wohl irgendwo im Busch geblieben. Er hatte sie um die Insel herum begleitet wie ein treuer Hund, und nun würde sie ihn nie wiedersehen. Plötzlich erschien es ihr, als sei dies das Traurigste an allem, und sie musste die Tränen gewaltsam zurückhalten.
Irgendwann war sie wohl doch eingenickt, denn etwas wie ein Kratzen weckte sie, ein Scharren und Schaben … Sie fuhr hoch. Es kratzte wieder … Das Geräusch kam von dem Fenster, vor dem die Insel in der Nacht lag. Dem Fenster, auf dem ein Teller mit Wurstbroten stand. Ein kleiner Schatten bewegte sich vor dem Fenster. Ein Tier, das durch eine undichte Fensterritze das Brot gerochen hatte. Es stieg mit seinen kleinen Vorderpfoten an der Glasscheibe hoch und schnupperte, und da sah Marit, dass es eine Ratte war. Eine endemische Galapagos-Reisratte. Carmen. Sie war also auf dem Schiff geblieben und sie hatte Hunger. Marit lächelte. Und dann sah sie noch etwas. Sie sah, wie sich die Scheibe bewegte. Carmens winziges Gewicht drückte sie an einer Ecke nach innen aus der Gummiabdichtung heraus. Wenn ein so winziges Gewicht das bewirken konnte, dachte Marit, musste die Scheibe lose sein. Vielleicht war sie es seit dem Sturm.
Auf einmal wurde sie so aufgeregt, dass ihre Hände zitterten.
Sie drückte vorsichtig gegen die Glasscheibe und spürte, wie sie langsam nachgab. Carmen beobachtete voller Verwunderung, wie Marit die Scheibe nach und nach aus ihrer Verankerung drückte. Marit wand sich durch die niedrige Öffnung wie eine Schlange. Wenn nur Waterweg nichts hört, dachte sie, wenn er nur nicht aufwacht, wenn nur … sie war draußen, draußen auf dem Deck. Sie spürte Carmens winzige Schnauze in ihrer Hand. Und wo ist nun das Brot, das ich gerochen habe?, schien sie zu fragen. Dann vergaß sie das Brot und kletterte an Marit hinauf, um es sich an ihrem Lieblingsplatz bequem zu machen: in Marits Haar.
»Danke«, flüsterte Marit, »danke, meine schlaue, dumme Freundin. Du hast mir den Weg gezeigt.«
Sie kletterte leise über Bord, in einer Hand Waterwegs Wasserflasche, und watetete zum Ufer. Kurz vor der weißen Strandlinie erschrak sie, als etwas sie am Arm berührte, ein weiterer Schatten der Nacht: ein Leguan.
»Uwe?«, fragte Marit ungläubig. »Ihr seid ja alle da! Ihr habt tatsächlich auf mich gewartet!«
Sie sah sich nach der Mari Nocturna um, der Nächtlichen Maria, die auf den Wellen der Nacht schaukelte. Ein Gefängnis ohne Gefangene.
»Warte nur, José«, flüsterte Marit. »Jetzt komme ich und befreie auch dich. Und dann kannst du dir überlegen, ob du mich immer noch anschreien möchtest.«
Sie merkte, dass etwas nicht stimmte, sobald sie ihren Fuß an Land setzte.
Der Boden bebte. Ein feines Vibrieren lief hindurch, so schwach, dass Marit es nicht bemerkt hatte, als sie durchs Wasser gewatet war. Aber jetzt verursachte die Bewegung ein unangenehmes Kribbeln in ihren Fußsohlen, ein Kribbeln wie eine Vorahnung.
Und die Seelöwen waren verschwunden.
»Was ist hier los?«, flüsterte sie und sah sich nach dem Leguan um. Uwe saß noch immer im flachen Wasser. Er war ihr nicht an den Strand gefolgt. Und seine Augen in dem stacheligen Drachengesicht betrachteten die Insel mit plötzlichem Misstrauen.
Marit sah zurück zum Meer. Die Mari Nocturna und die Mariposa schaukelten friedlich auf den nächtlichen Wellen. Erstaunlich war nur die kleine Gruppe von Wasservögeln, die zu dieser ungewöhnlichen Stunde in die Bucht hinausschwamm: ein Albatros, ein Flamingo und … war das ein Pinguin, der kurz auf- und gleich wieder abgetaucht war? Oskar. Er schwamm wieder. Eduardo der Flamingo erhob sich jetzt in die Luft, flog den anderen voraus … und landete auf der Kajüte der Mari-posa.
Marit hatte den Strand noch nicht ganz überquert, da geschah noch etwas Beunruhigendes: Carmen kletterte von ihrem Kopf,
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