Die geheime Reise
Ein Nachthimmel, tiefdunkel und von Millionen von Sternen übersät. Silbrig leuchtend am Horizont, der volle Mond. Direkt darunter noch ein Mond, verschwommen, an den Rändern leicht gezackt. Ein leises Rauschen ertönte. Der untere Mond wackelte. Und Wanja musste lächeln. Es waren nicht zwei Monde. Der Mond spiegelte sich im Wasser. Im Meer.
Das Rauschen kam von den Wellen. Sie rollten sich auf den dunklen Strand, bevor das Meer von einer sanften Macht zurückgezogen wurde und wieder neu hervorkam. Jos Worte kamen Wanja plötzlich in den Sinn, ihr Vergleich der Geburtswehen mit Wellen, die Wanjas Körper in Jo zurück und wieder nach vorne getrieben hatten, dem Leben entgegen.
Als Letztes bildete sich der Gong. Er hing an der Außenwand des Turmes, groß, golden und schwer.
Wanja rührte sich nicht von der Stelle. Die Farben des inzwischen gestochen scharfen Bildes leuchteten noch intensiver als die Bilder in den Arkaden und die Luft um Wanja schmeckte nach Nacht, nach Meer und nach Salz.
Die Tür des Turmes öffnete sich. Heraus trat ein dunkelhäutiger Mann. Er trug ein weißes Gewand, das ihm bis zu den bloßen Füßen reichte. Um den Hals des Mannes hing eine Kette mit einem Anhänger. Und auf seinem langen, schmalen Gesicht lag ein Lächeln, das doch keines war.
»Hier bist du also.« Der Mann trat näher, wodurch er größer und der Turm hinter ihm kleiner wurde. Seine Stimme klang rau, heiser fast und über seinen hellen Augen lag ein milchiger Schleier. »Und wie ich sehe, ist dein Freund in Schwierigkeiten.«
Wanja nickte nur. Sagen konnte sie nichts. Die alte Frau war zurückgetreten. Sie lehnte an der Wand, ihre Arme hingen herab.
Der nächste Satz kam ebenso unvermittelt wie Wanjas Antwort.
»Hast du Mut?«
»Ja.«
Das Wort hatte sich selbstständig gemacht, war aus Wanjas Mund gesprungen, wie jemand, der im letzten Augenblick hinter einer zufallenden Tür hervorschnellt.
Der Mann neigte den Kopf. Seine Hände spielten mit dem Anhänger an seiner Kette. »Dann finde dich in drei Tagen um drei Uhr nachmittags wieder vor deinem Bild ein.«
»In drei Tagen?« Wanja suchte mit ihrer Hand nach einem Halt, fand ihn aber nicht. »Warum so spät?«
»Weil du neue Kraft brauchst«, entgegnete der Mann. »Innere Kraft. Drei Tage sind das Mindeste und selbst dann ist dein Reisekörper noch sehr schwach.« Er ließ den Anhänger aus seinen Händen gleiten und Wanja erkannte, dass es eine Sanduhr war. Der obere Teil war fast leer, nur noch ein feiner Rest rieselte langsam durch die schmale Öffnung nach unten.
»Deinen Freund bring mit«, fuhr der Hüter der Bilder fort und das seltsame Lächeln von seinen Lippen verschwand. »Ich meine den äußeren Körper deines Freundes.«
»Wird er …« Wanja trat einen winzigen Schritt nach vorne. »Wird er mich verstehen? Ich meine, wird er … mit mir kommen?«
Der Mann nickte. »Er wird nicht wissen, was du von ihm willst, weil er sich an nichts erinnert. Aber wenn du bestimmt genug bist, wird er dir folgen.«
Eine Pause entstand. Das Rauschen des Meeres füllte die Stille.
Der Hüter der Bilder trat noch näher. Lebensgroß war er jetzt, während der Turm hinter ihm plötzlich winzig zu sein schien.
»Führe deinen Freund zu eurem Bild. Du selbst gehst hinein, auf dieselbe Weise wie immer. Zwölf Mal wird der Gong ertönen, während du im Bild bist. So lange hast du Zeit, den Reisekörper deines Freundes zu finden. Beim zwölften Schlag müsst ihr beide zurück sein. Danach gibt es keine Rettung mehr.«
Ein leises Stöhnen fuhr durch den Raum. Es kam von der alten Frau.
Wanja schwieg. Und der Mann im Bild sah sie an, aus seinen seltsamen Augen. Wanja hätte nicht sagen können, wie alt er war. Dreißig Jahre, fünfzig Jahre. Hundert Jahre. Tausend Jahre.
»Möchtest du noch eine Frage stellen?«, fragte er ruhig.
Wanja trat einen Schritt vor. »Wer bist du?«, fragte sie nach einer ganzen Weile. »Was bedeutet das, Hüter der Bilder?«
Das Lächeln kehrte zurück. »Der Ausdruck ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen«, sagte der Mann. »Ich bin hier nur so was wie ein Hausmeister. Ich halte Ordnung und helfe den Besuchern die Gesetze einzuhalten.«
Wieder legten sich seine Finger um die Sanduhr. Wanja zuckte zusammen, schuldbewusst, obwohl sie nichts getan hatte. Der Mann wich ein paar Schritte zurück, wodurch der Turm wieder wuchs und Wanjas Augen streiften den Gong. Groß und schwer hing er an der Seite des Turmes, in seiner glänzenden Oberfläche spiegelten sich
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