Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
Vom Netzwerk:
das Meer und der Mond. Wanja musste an ihr Gespräch mit Amon denken. Auch er hatte von den Gesetzen gesprochen und auf eine Weise schienen auch Taro und die anderen davon zu wissen.
»Wer macht die Gesetze?«, flüsterte sie.
Der Hüter der Bilder schloss die Augen und öffnete sie wieder. Er sah plötzlich müde aus, seine Stimme wurde noch heiserer. »Die Gesetze machen sich selbst. Niemand hat sie ausgedacht oder bestimmt. Sie sind so alt wie die Bilder, zu denen sie gehören.«
»Und die Bilder?«, fragte Wanja weiter. »Wer hat die Bilder gemalt?«
Der Mann räusperte sich. »Die Vaterbilder«, sagte er langsam, »sind so alt wie die Welt.«
Wanja runzelte die Stirn. Moment mal … so alt wie die Welt? Sie dachte an die anderen Bilder, die sie in den Arkaden gesehen hatte. »Aber … Artisten, Soldaten, Schafhirten, die gibt es doch noch nicht so lange, wie es die Welt gibt«, entfuhr es ihr.
Die verschleierten Augen des Mannes sahen an ihr vorbei, vielleicht auf die alte Frau, die jetzt ihren Kopf hob. Dann wandte er sich wieder Wanja zu. »Damit hast du Recht. Doch ich sagte, die Vaterbilder sind so alt wie die Welt. Was ihr in diesen Bildern seht, verändert sich. Von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation und von Mensch zu Mensch. Jeder sieht in diesen Bildern, was er darin sehen will. Damit beantwortet sich auch die Frage, von wem die Bilder sind. In gewisser Weise seid ihr selbst die Künstler.«
Wanja schnappte nach Luft. Langsam formulierte sich in ihrem Inneren eine Antwort. »Du meinst … die Ausstellung heißt Vaterbilder, weil wir darin so etwas wie das Bild eines Vaters sehen? Eines Vaters, den wir gerne hätten? Egal, ob wir einen haben?« Sie dachte an Mischa, an Alex.
Der Hüter der Bilder blieb still. Die Augen schienen ihm zufallen zu wollen.
»Aber …« Wanja biss auf ihrer Haarsträhne herum. Alle Fragen, alle Zweifel kamen wieder in ihr hoch, jetzt, wo sie an der Quelle des Rätsels war. »Aber … wieso sind diese Bilder dann so – lebendig? Wieso können wir mit den Menschen dort reden, sie fühlen, sie … sie lieben?« Wanja strömten jetzt die Tränen die Wangen herunter. Taro, sie dachte an Taro, an all die wunderbaren Dinge, die sie und Mischa mit ihm erlebt hatten. Und an die schrecklichen. An seinen Sturz, an seinen leblosen Körper auf dem Boden der Manege. »Ich will nur wissen, ob die Menschen in diesen Bildern wirklich sind«, schluchzte sie.
Der Hüter der Bilder beugte sich vor. Seine Stimme war jetzt so heiser, dass Wanja sich anstrengen musste, um die Worte zu verstehen. »Über das, was wirklich, und das, was nicht wirklich ist, haben sich schon seit Urzeiten unzählige Menschen den Kopf zerbrochen und noch heute scheiden sich an dieser großen Frage die Geister. Für meine Begriffe ist all das, was uns wirklich berührt, auch wirklich wahr. Und wenn sich unser Innerstes für eine Welt öffnet …«, der Mann schwieg einen Moment, »dann öffnet sich diese Welt auch für unser Innerstes und wird unsere Wirklichkeit – solange wir es brauchen.« Nach diesen Worten machte er eine lange Pause. Dann fügte er mit plötzlich klarer Stimme hinzu. »Kannst du mit dieser Antwort leben?«
Wanja nickte. Ganz langsam, aber sie nickte. Dann zeigte sie auf die Sanduhr. »Ist das die Zeit … die Mischa noch bleibt?«
Der Hüter der Bilder legte die Sanduhr in seine flache dunkle Hand, als könne er dadurch das Weiterrieseln des Sandes aufheben. »Ich wünsche dir Glück«, sagte er nur. »Denn eine zweite Chance gibt es nicht.«
Der Hüter der Bilder wandte sich an die alte Frau, die jetzt neben Wanja getreten war. »Führ sie nach draußen, Ananda.«
Mit diesen Worten stand er auf und ging in das Innere des Turmes. Mit jedem Schritt, mit dem er kleiner wurde, wurde der Turm größer. So groß, dass Wanja durch die Tür in ihn hineinsehen konnte. Bilder hingen an den Wänden. Porträts, rot gerahmt, in leuchtenden Farben. Nur eines war dunkel. Wanja sprang vor. Doch da hatte sich die Tür des Turmes bereits geschlossen.
Das Bild löste sich auf, verblich, langsam, wie es entstanden war.
Das Rauschen des Meeres und der Geschmack von Salz waren das Letzte, was blieb.
Dann löschte die alte Frau die Kerzen und führte Wanja nach draußen zur roten Tür im großen Saal.
Z URÜCK
    I n der Kunsthalle herrschte noch immer reger Betrieb, und als Wanja in die Eingangshalle trat, wurde sie erwartet. Von Natalie und Alex.
    »Was um Himmels willen war denn los?« Ganz blass war Alex

Weitere Kostenlose Bücher