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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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plötzlich und auch in Natalies Gesicht mischten sich Verwirrung und Angst.
    »Ich …« Wanja schluckte. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Im Bild ist etwas Schreckliches passiert und Mischa«, Wanja senkte die Stimme, als ein Mann an ihnen vorbei zum Ausgang ging, »Mischa ist drin geblieben.«
    »Wie drin? Im Bild ?« Alex stand der Mund offen. »Aber Mischa war doch da.«
»War er eben nicht.« Wanja traten schon wieder die Tränen in die Augen. »Das war nur sein äußerer Körper. Sein … sein Reisekörper ist im Bild.«
»Sein was?« Natalie runzelte die Stirn.
Wieder gingen Leute an ihnen vorbei. Eine ältere Dame musterte mitleidig Wanjas verweintes Gesicht.
Wanja wandte sich zum Ausgang. »Ich will hier raus.«
Eisiger Wind blies den Jugendlichen auf den Stufen entgegen. Natalie und Alex klappten ihre Kragen hoch und zogen die Köpfe ein. Aber Wanja stand nur da und sog den Wind in ihre Lungen. Auf den Straßen war kaum ein Auto unterwegs.
»Fühlt ihr auch diesen Sog in euch, wenn ihr das Bild berührt? Und dann das Kribbeln, wenn der Gong schlägt? Diese Sehnsucht, von der ihr nicht wisst, wonach?«
Die beiden nickten mit erstaunten Gesichtern, als würde es ihnen jetzt erst richtig bewusst. Natalie sah Wanja aus ihren schwarzen Augen an und Alex stieß ihr in die Seite. »Jetzt sag schon, Mensch. Was ist mit Mischa? Was soll das heißen, sein Reisekörper ist im Bild?«
Wanja schluckte. Und dann erzählte sie den beiden, was die alte Frau und der Hüter der Bilder ihr erzählt hatten. Als sie aufhörte, waren ihre Hände taub vor Kälte und Alex und Natalie klapperten mit den Zähnen. Ihre Lippen waren blau.
»Ach du meine Scheiße«, murmelte Alex.
Wanja fing an zu schluchzen.
Natalie legte ihr den Arm um die Schultern. »Sollen wir dich nach Hause bringen?«
»Ich muss nicht nach Hause«, entgegnete Wanja. »Ich muss zurück ins Schullandheim. An die Nordsee. Ich bin von dort abgehauen. Aber mein Zug geht erst um kurz nach sechs.«
»Auch das noch!« Alex kickte gegen die vor ihm liegende Fantaflasche. Sie rollte die steinigen Stufen nach unten und weiter auf den Bürgersteig, bis sie vor einem parkenden Auto liegen blieb.
»Natalie, kannst du bei ihr bleiben?«, fragte er. »Ich glaub, meine Alten haben was gemerkt, als ich vorhin aus dem Haus gegangen bin. Als ich draußen war, ging in ihrem Zimmer das Licht an. Ich muss mir irgendwas einfallen lassen. Aber wenn ich die ganze Nacht nicht komme, kann ich mir die nächsten Besuchstage in die Haare schmieren. Mein Vater bringt es fertig und setzt einen seiner Leibwächter auf mich an. Damit hat er mir schon mal gedroht.«
Natalie legte ihren Arm noch fester um Wanja. »Sei froh, dass du wenigstens einen Vater hast«, sagte sie kalt.
    Die Straßen auf dem Weg zum Bahnhof wirkten verlassen. Nur ein paar Betrunkene wankten an Wanja und Natalie vorbei und vor einer Haustür stritt sich ein Pärchen. Noch immer lag Natalies Arm auf Wanjas Schulter.
    Neben dem Eingang vom Bahnhof war ein Fotogeschäft, dessen Fenster mit pappigem Styroporschnee, grünen Kunststoffzweigen und einem brüllend hässlichen Weihnachtszwerg mit rot geschwollener Nase dekoriert war. In der Mitte der Auslage, gehalten von dünnen Seilen, hing ein goldener Plastikrahmen. »Bei uns sind Sie bestens im Bilde«, stand darin.
    Wanja presste ihre kalten Hände gegen die Stirn. »Meine Güte, Natalie. Auf was haben wir uns da bloß eingelassen?«
    »Auf was Gutes, Wanja.« Natalies Stimme klang eindringlich. »Ich versteh zwar immer noch nicht ganz, was du vorhin erzählt hast. Aber ich bin sicher, dass es gut wird. Dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Wir …« In ihre dunklen Augen traten Tränen. »Wir sind doch irgendwie noch Kinder. Die werden doch nicht zulassen, dass uns etwas passiert.«
    Wanja nickte. Sie war sich da zwar nicht so sicher, aber es klang tröstend. Und es tat gut, dass Natalie bei ihr blieb.
    »Was ist denn mit deiner Mutter?«, fragte sie. »Kriegst du keinen Ärger?« Natalie schüttelte den Kopf. »Die schläft nachts wie ein Baby«, sagte sie und zog ihre Nase hoch.
    Die beiden suchten sich eine halbwegs warme Nische vor einem der Läden im Inneren der Bahnhofshalle. Eine Ladentür weiter, unter einem speckigen Schlafsack, lag ein Penner und schnarchte. Die leere Rotweinflasche neben ihm war umgefallen.
    »Kennst du deinen Vater auch nicht?«, fragte Wanja in die Stille hinein.
    »Mein Vater ist tot«, sagte Natalie. »Er hat sich umgebracht.« Sie

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