Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
Vom Netzwerk:
Augen, dass es wehtat. Als sie die Hände wieder fortnahm, ging der Vogel auf sein Opfer los. Seine ungeheuren Krallen spreizten sich, griffen blitzschnell nach Taros Schultern und schlossen sich wieder. Taro war gefangen.
Perun lehnte am Wagen, Mischa war zu Boden gefallen.
Und der Vogel erhob sich in die Lüfte, mit krächzendem Hohngeschrei und Taro in seinen Krallen. Er flog über den Abgrund.
Als er außer Sicht war, kehrten die Farben zurück. Doch jetzt waren sie Wanja fast unerträglich. Beißend das Rot von Taros Wagen, stechend das wolkenlose Blau darüber. Und gellend schrill war der Schrei, der jetzt aus ihrer und Mischas Kehle drang.
»TAAAAAAAROOOOOOOOO!«
Als Antwort, verzögert, ertönte der Gong.
W AS NOCH ?
    Wieder waren Wanja und Mischa die Letzten. Auch Alex und Natalie waren schon gegangen, Natalie weinend, Alex stumm.
    Die uralte Frau stand vor dem roten Tisch. Wanja trat vor die Bühne, und als sie in die meerblauen Augen sah, löste sich die eiserne Hand, die sich um ihr Herz gekrallt hatte, für einen winzigen Moment. »Es tut mir so Leid«, sagte sie leise.
    Die Frau lächelte traurig. »Grüße Amon von mir«, sagte sie sanft.
    »Kannst du nicht mehr zu ihm?«, fragte Wanja.
Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Wenn die Besuchszeiten vorbei sind, bleiben uns die Bilder für immer verschlossen.«
»Ich werde Amon die Grüße bestellen«, sagte Wanja.
    An der Ecke, wo sie und Mischa sich trennten, hielt Wanja ihren Freund am Arm. »Was hast du in der Kugel gesehen?«
    Mischas Finger krallten sich um den Lenker. Minus zwölf Grad hatte das Thermometer heute Morgen gezeigt. Mischa trug keine Handschuhe. Seine Hände waren bläulich rot, die Knöchel weiß, wie der Atem, der vor ihren Mündern hing.
    »Ein Gesicht«, murmelte Mischa.
»Was für ein Gesicht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und was noch?« Aus Wanjas Mund schossen kleine Nebelwolken, stoßweise.
    »Was noch?« Mischas Stimme wurde lauter. »Du willst es wirklich wissen, was? Ich sag dir, was noch. Danach hab ich mich selbst gesehen. Ich hab in der Kugel gesessen und geflennt wie ein beschissenes Baby, okay?«
    Wanja streckte ihre Hand nach ihm aus. Aber Mischa zuckte zurück. Er schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr los. Eine ältere Dame, an der er vorbeischoss, hob wütend ihren Schirm. Dann verschwand er um die nächste Ecke.
K EINE A NTWORT
    M it mürrischer Miene und steifen Gliedern schleppte sich der Januar durch Deutschland. Kein strahlender Bote des neuen Jahres, sondern ein graugesichtiger, kaltschnäuziger Geselle, der die Sonne wegsperrte und dem Schneeregen Beine machte. Über Wanja hatte sich eine unsichtbare Glocke gestülpt und niemand klopfte an.
    Jo steckte bis zum Hals in Arbeit. Wenn sie nach Hause kam, knallte sie die Einkäufe auf den Tisch, verfluchte ihren Chef und schlief mit Paula auf dem Schoß vor dem Fernseher ein.
    In der Schule erschien Wanja zum Unterricht, mehr brachte sie nicht fertig. Mathedeutschbioenglischpolitik, die Fächer vermischten sich zu einem lauen Eintopf aus schalem Gemüse. Herr Schönhaupts Fräuleins prallten an ihr ab, Frau Gordons besorgtem Stirnrunzeln wich sie aus, und als der Sportlehrer in einer Stunde zum ersten Mal für alle das Schultrapez herunterließ, verließ Wanja die Halle und meldete sich bei der Schulsekretärin krank.
    Von Tina kam eine Karte. Sue gab sie Wanja und Britta zu lesen, das war die einzige Berührung zwischen ihnen. Ansonsten waren sie Fremde geworden. Sue ging seit ein paar Wochen mit einem Jungen aus der Zehnten und war in den Pausen von der Bildfläche verschwunden. Britta verschwand hinter ihrer Schminke. An manchen Tagen waren ihre Augen verquollen und einmal rief Frau Gordon sie nach dem Unterricht zu sich.
    Wanja verbrachte die Pausen mit Mischa. Wenn sie zusammen waren, hob sich die unsichtbare Glocke und nahm sie beide unter sich auf. Ihre Gefühle vermischten sich und in ihren Herzen irrten Amons Worte umher, zuckende Silberfische in einem tiefen dunklen Meer. Eure Angst und eure Wut geben dem Vogel seine Macht.
    Beide ahnten, dass sie jetzt nur warten konnten.
    An einem Sonntag klingelte das Telefon. Wanja schreckte von ihrem Buch auf, aber Jo war schon dran, ihre Stimme drang ins Wohnzimmer.
    »Ich verstehe … ja, das ist mir auch schon aufgefallen … ich weiß es nicht … ich komme selbst nicht an sie heran … vielleicht ist es einfach das Alter … ja, ich weiß … ich danke Ihnen … ja, ich werde mit ihr sprechen … danke … Auf

Weitere Kostenlose Bücher