Die geheime Reise
Pfannkuchen in sich hinein. »Und zu Aldi.« »Zu Aldi?!« Flora zog die Augenbrauen hoch. »Klar«, sagte Brian. »Da esse ich das ganze Süßkramregal leer.«
»Seelen essen nicht«, murmelte Wanja.
»Meine schon«, widersprach Brian mit wissender Mine. »MEINE schon.« Dann stand er auf. »Tschüss.
War lecker.«
Flora war wie ein Rettungsboot. Sie fragte nicht, sie drängte nicht. Sie war einfach nur da, sang beim Kochen französische Lieder, raufte sich beim Korrigieren der Hefte die Haare und erzählte Wanja von Anton, ihrem neuen Freund.
»Wo hast du die eigentlich immer alle her?«, wollte Wanja wissen.
»Anton habe ich auf einem Fortbildungsseminar kennen gelernt«, antwortete Flora. »Er unterrichtet Deutsch und Kunst an einer Realschule, genau wie ich. Leider ist die Schule in Nürnberg.« Flora seufzte und zündete sich eine Zigarette an. »Irgendwas ist immer falsch. Aber vielleicht hält es ja länger, wenn man sich weniger sieht.« Wanja zog die Knie hoch, lehnte sie gegen die Tischkante und legte ihre Hände um die heiße Teetasse. »Hattest du auch schon mal einen Alkoholiker als Freund?«
Flora musste husten. »Einen Alkoholiker? Nein danke!
Wie kommst du denn darauf?«
Wanja blies in den Tee. Der Dampf stieg ihr feucht ins Gesicht. »Mischas Eltern sind, glaub ich, welche.« Flora nickte leicht. »So was hab ich mir fast gedacht.
Spricht er denn mit dir darüber?«
»Nicht richtig. Aber ich war mal bei ihm. Es sah schrecklich aus. Überall Müll, Kippen. Schnapsflaschen und leere Bierdosen. Die Mutter war im Bademantel. Ich glaub, die liegt den ganzen Tag im Bett. Sein Vater hat ihn geschlagen. Und Heiligabend ist er abgehauen.« Wanja schwieg und Flora sah sie mitfühlend an. »In meiner Schule hatte ich auch einen Jungen mit solchen Eltern, der Vater saß sogar ein paar Mal im Knast. Und an den Jungen kam keiner ran. Er hatte sich hinter einer haushohen Mauer aus Wut und Hass verbarrikadiert. Aber Mischa kommt mir anders vor. In dem ist noch ganz viel Gefühl. Und dieses Bild, das er von dir gemalt hat; meine Herren. Das ist wirklich außergewöhnlich.« Wanja nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Das Bild hing neben ihrem Bett. »Flora?«
»Ja?«
»Hast du schon mal einen Mann weinen sehen?«
Flora lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Eigentlich nur meinen Vater«, entgegnete sie nach einer Weile.
»Und das auch nur einmal. Als seine Mutter gestorben ist. Ich war damals noch ein Kind.«
»Und wie sah es aus, als er geweint hat?«
Flora überlegte. »Im ersten Moment ganz fremd, ich weiß noch, dass ich furchtbar erschrocken war. Meine Mutter hat oft geweint, aber meinen Vater so zu sehen war unheimlich.«
Wanja dachte an die Kugel, an das, was Mischa darin gesehen hatte. »Glaubst du, Männer wollen nicht weinen, oder glaubst du, sie können es nicht?«
»Was glaubst denn du?«
Wanja streichelte Paula, die auf ihren Schoß gesprungen war. »Vielleicht glauben sie ja, sie dürfen nicht.«
Nachts kam der Vogel. Wanja lag im Bett und es krachte und klirrte. Der Vogel war durch die geschlossene Fensterscheibe geflogen und flatterte auf ihr Bett. Er war riesig, schwarz und schwer, er senkte den Kopf und hackte auf Wanjas Bettdecke ein, riss sie mit seinem spitzen Schnabel in Fetzen. Weiße Federn flogen aus der Decke, stiegen in die Luft, füllten das ganze Zimmer und landeten wieder in Wanjas weit geöffnetem Mund. Sie versuchte die Federn auszuspucken, aber es ging nicht, sie klebten an ihrem Gaumen, in den Backentaschen, an der Zunge, überall. Dann ging der Radiowecker an. Die uralte Frau sagte, die Ausstellung sei geschlossen wegen Schnee, und dann ging die Tür auf. Wanjas Uroma stand im Rahmen, dahinter die Oma, dahinter Jo, doch ihre Mutter sah Wanja kaum. Keiner der drei kam ins Zimmer. Sie standen da und starrten den Vogel an, während Wanjas Mund sich weiter mit Federn füllte, bis sie das Gefühl hatte, zu ersticken.
Er soll mich in Ruhe lassen, wollte sie schreien, er soll Taro in Ruhe lassen, ich will wissen, wie es meinem Vater geht, mir ist schlecht, mir ist so schrecklich schlecht!
Dann legte sich plötzlich jemand zu ihr und rüttelte sie sanft an der Schulter.
»Wanja. Liebes, wach auf. Du träumst.«
Wanja schlug die Augen auf. Röchelte. Holte Luft. Flora lag neben ihr und Wanja vergrub ihr Gesicht an ihrer Schulter.
»Mir ist schlecht«, flüsterte sie.
Flora nahm sie in den Arm. Ihr Parfüm roch kräftiger, würziger als das von Jo.
»Ich
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