Die geheime Reise
will wissen, wer mein Vater ist«, sagte Wanja in Floras Schultern hinein.
Floras Hand strich ihr über die Locken. »Das kann ich gut verstehen«, erwiderte sie leise. »Aber dabei kann ich dir nicht helfen. Diese Frage musst du Jo stellen.«
»Ich kann das aber nicht.«
Floras Hand hielt inne. »Doch, Wanja. Du musst es können. Du hast ein Recht auf diese Frage.«
Wanja hielt sich an Flora fest, bis der Schlaf sie zu sich nahm.
D IE A NGST UND DIE W UT
D er 14. Februar war ein Mittwoch. Die Einladung hatte am schwarzen Brett in der Schule gehangen, und als Wanja hinter Mischa aus dem Rahmen in die Manege stieg, stand Sulana vor ihnen. Die Schlange lag friedlich um ihren Hals, den schuppigen grünbraunen Kopf über ihre Schwanzspitze gelegt, die brauenlosen Augen geschlossen. Sulana kam auf die beiden zu, senkte den kurz geschorenen Kopf und streckte ihre Hände aus. Von oben, dem Balkon der Musiker, fiel Licht auf die Manege herab, ein warmer goldener Schein.
Es war ein sonderbarer Moment. Mischa ergriff die eine Hand und Wanja, wortlos, die andere. So standen sie da, eine lange Weile, bis Sulana sich ihnen entzog, den Vorhang der Manege zur Seite schob und gleich darauf lautlos dahinter verschwand.
Sandesh kam in die Manege und blieb in ihrer Mitte stehen, genau unter Taros Trapez, das hoch oben in der Luft hing. Ein erdiger Geruch ging von ihm aus und in seinen dunklen Augen strahlte eine ruhige Kraft. Es war eine Ruhe, an der sich Wanja wärmen konnte und die sie stärkte wie ein Zaubertrank. Dann erblickte sie Pfeil und Bogen von Perun. Sie lagen neben dem Vorhang und für einen Augenblick war Wanja fassungslos. An das Offensichtlichste hatten sie nicht gedacht, als der Vogel auf Taros Wohnwagen gehockt hatte. Wanja ging zum Vorhang, steckte Pfeil und Bogen in den ledernen Beutel und hängte ihn über ihre Schultern.
Dann stieg sie mit Mischa auf den Rücken des Pferdes.
Im Zirkus Anima herrschte Nacht. Neben der Cafeteria flackerte ein Feuer, um das die Artisten einen Kreis gebildet hatten. Sie bemerkten ihre Besucher nicht, aber Wanja erkannte die breiten Rücken von Thrym und Thyra, dicht aneinander gedrängt und spiegelgleich. Winzige Goldfunken stoben, über den Köpfen der Artisten knackend, in die windstille Luft, jemand spielte leise auf der Trommel, wahrscheinlich war es O. Stimmen waren nicht zu hören, aber das unterdrückte Schluchzen, das herüberdrang, klang nach Gata. Ob sie wussten, wo Taro war? Eine innere Stimme sagte Wanja, dass sie keine Ahnung hatten. Aber Sandesh wusste es und Sulana hatte ihn in die Manege geführt, zu ihr und Mischa, die es ebenfalls wussten, tief in ihrem Inneren, obwohl sie nie darüber gesprochen hatten.
Mischa legte Wanja die Hand auf die Schulter. »Bist du bereit?«
Wanja nickte. Leicht drückte sie die Schenkel an das warme Fell des Pferdes. Und Sandesh setzte sich mit einem leisen Schnauben in Bewegung.
Er führte sie durch die Finsternis des Waldes, der in dieser Nacht voller Geräusche war. Der Wind wisperte aus dunklen Ecken, ein Käuzchen schrie, unter Sandeshs Hufen knackten Zweige, Laub raschelte, kleine Steine knirschten und Wanja stöhnte auf, als neben ihr von einem Baum ein Ast abbrach und zu Boden krachte. Dass sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnten, machte es nicht besser. Stärker noch als damals, als der Vogel Taro im Wald angegriffen hatte, wurden die Bäume zu bedrohlichen Wesen. Besonders einer, ein einsam stehender, auf den sie jetzt zuritten, erschien Wanja wie eine verhexte Gestalt. Seine riesenhaften, seltsam symmetrisch angeordneten Äste reckten sich starr in die Höhe, als flehten sie eine unsichtbare Macht um Erlösung an.
Nach einer Ewigkeit, so schien es Wanja, gelangten sie an den Abgrund, über dem kein Mond und keine Sterne leuchteten. Vor ihnen lagen schwarz und schweigend die Berge. In der Luft lag angespannte Stille.
Die Welt hielt den Atem an.
Sandesh blieb auf der Lichtung zurück, und bevor sie und Mischa ihn verließen, legte Wanja ihre kühle Stirn an seine samtweiche Nase. Der Atem des Pferdes streichelte ihr Gesicht und sie dachte an Taro, wie er damals mit ihnen zur Weide gegangen war und Sandesh mit seiner silbernen Pfeife zu sich rief.
»Komm.« Rau und leise klang Mischas Stimme. Er war ein paar Schritte vorausgegangen und drehte sich jetzt wartend zu ihr um. Wanja löste sich von Sandesh, atmete tief ein und folgte ihrem Freund in die Finsternis.
Heute nahmen sie den anderen Weg. Den holprigen, schmalen,
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