Die geheime Reise
Taro in seinen Wagen getragen«, entgegnete Perun. »Gata und ich sind bei ihm geblieben. Sulana wollte Amon holen. Aber sie kam ohne ihn zurück und dann …« Perun wischte sich über die dunkle Stirn. »Dann kam der Vogel aus der Manege. Er flog direkt auf Taros Wagen zu, ich konnte das Biest aus dem Fenster kommen sehen. Mich und Gata hat er rausgelassen, doch ab da ließ er niemanden mehr rein. Wir haben uns in die Cafeteria geschlichen, um uns zu beraten, die Köpfe haben wir uns zerbrochen, wie wir den Vogel vom Wagen vertreiben können. Aber es hat nichts geholfen. Die ganze verfluchte Nacht haben wir hier gestanden und jedes Mal, wenn einer von uns einen Schritt näher tat, hob die Bestie ihre Flügel.«
Perun spuckte auf den Boden. »Nach ein paar Stunden hab ich’s nicht mehr ausgehalten. Mir war alles egal. Ich bin auf den Wagen zu und wollte die Tür aufreißen. Doch dann …« Wieder hielt Perun inne.
»Dann was !« Mischas Stimme bebte und für einen Moment sah es aus, als wolle jetzt er auf den Wagen zustürzen. Aber Perun hielt ihn fest. Und da sah Wanja seinen Arm. Sein linker Ärmel war in Fetzen gerissen. Die Haut dahinter war von tiefen Kratzern zerfurcht und das graue Hemd war schwarz gesprenkelt vom Blut.
»Und was … ist mit Taro?«, flüsterte Wanja.
Perun schüttelte den Kopf. Plötzlich sah er entsetzlich müde aus. »Wir haben nach ihm gerufen. Ein paar Mal hat er geantwortet. Aber seit heute Morgen ist im Wagen alles still.«
Der Feuerschlucker hob die Hände und senkte sie wieder. »Ich weiß nicht weiter. Ich weiß verdammt noch mal nicht weiter!«
Wanja sah an ihm vorbei. Auch die anderen Artisten hatten sich jetzt zu ihnen umgedreht, stumm und fassungslos.
Mischa wandte sich ab. Seine Stimme klang hart. »Wir gehen zu Amon.«
Der heruntergekommene Wagen des Alten war das Einzige, was seine Farbe behalten hatte. Die Tür stand offen und jetzt erst nahm Wanja wahr, dass die glänzende Kugel im Regal des Alten blau war. Aber hinein wagte sie nicht mehr zu schauen. Dafür trat Mischa auf die Kugel zu. Er beugte sich darüber, sah hinein – und wich zurück, mit blassem Gesicht.
Der Alte saß an seinem Tisch und hackte Kräuter. Sattes, lebendiges Grün, das Wanja gierig mit den Augen aufsaugte. Auf dem Herd dampfte der Kessel.
»Du hast viel Mut bewiesen«, sagte der Alte, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. Wanja antwortete nicht. Ihr Blick schlich zu den Bildern der Jugendlichen, die an der Wand neben Amons Tisch hingen, all die Besucher, die hier gewesen waren, im Zirkus Anima. An dem letzten Porträt, dem des Jungens und des Mädchens, blieb sie wieder hängen, und als Wanja in die meerblauen Augen des Mädchens sah, schrie sie leise auf. Plötzlich war ihr klar, warum die uralte Frau im Museum Amons Namen kannte. Und warum sie wusste, an welchen Ort Amon Mischa gebracht hatte.
»Sie war hier, nicht wahr?« Wanja wandte sich an den Alten. »Das Mädchen auf dem Bild ist die alte Frau im Museum.«
Der Alte lachte meckernd. Doch als er von seinen Kräutern aufsah, lag Wehmut in seinem Blick.
»Sie waren beide hier.« Die kristallenen Augen fixierten Mischa, der an die andere Seite des Tisches getreten war und die Stirn runzelte. Wanja ließ sich auf den zweiten Stuhl sinken. Jetzt war ihr alles klar. Die Traurigkeit in den Augen der alten Frau. Diese Art, wie sie Wanja und Mischa immer angeschaut hatte. Die Angst in ihrem Gesicht, beim letzten Besuchstag. Und ihr Aufstöhnen im kreisrunden Raum hinter der weißen Tür, als der Hüter der Bilder sagte, nach dem zwölften Gongschlag gäbe es keine Rettung mehr.
»Der Junge ist im Bild geblieben«, flüsterte Wanja.
Der Alte nickte. »Ananda hat versucht ihn zu retten. Aber für ihn war es zu spät.«
Mischa zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden. Wanja fragte nichts. Sie wusste, was es für den Reisekörper bedeutete, wenn er im Bild blieb. Und was mit dem äußeren Körper des Jungen geschehen war, wollte sie nicht wissen.
Der Alte fuhr fort seine grünen Kräuter zu hacken und für lange Zeit war das harte Klopfen des scharfen Messers auf dem hellen Holzbrett das einzige Geräusch im Wagen, bis es von einem Krächzen aus der Ferne unterbrochen wurde.
Mischa griff den Alten grob am Arm. »Du hast damals zu Wanja gesagt, dass Taro nur für uns da ist.«
»Ja«, entgegnete der Alte. »Das habe ich gesagt.«
»Und der Hüter der Bilder«, Mischa fuhr Wanja an, »hat dir erzählt, wir sehen in den Bildern, was wir darin
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