Die geheime Reise
Wiederhören.«
Als Jo ins Wohnzimmer kam, sah sie blass und hilflos aus. Sie setzte sich zu Wanja auf die Couch. Paula spielte vor dem Fernseher mit dem Schwein. Quieks. Fauch. Quieks. Fauch.
»Das war Frau Gordon.«
Wanja ließ das Buch auf ihre Brust sinken. Sie hatte Jo nichts von der Fünf in der Mathearbeit erzählt. Auch nichts von der Vier in Deutsch.
»Sie sagt, deine Leistungen gehen immer weiter runter.«
Jo nestelte an dem Knopf ihrer grauen Strickjacke herum. Das knubbelige Ding war mit dunkelbraunem Leder überzogen, hellbraune Linien unterteilten den Knopf in vier Teile. Im rechten, unteren Viereck war das Leder abgeblättert, darunter schimmerte weißes Plastik. Wanja wusste, dass es Plastik war, sie hatte über die Herstellung genau dieser Knöpfe einmal einen Beitrag in der Sendung mit der Maus gesehen. Das war Ewigkeiten her und Wanja wunderte sich, dass sie es überhaupt behalten hatte. Wie viele Belanglosigkeiten hatten in einem menschlichen Kopf Platz? Was alles würde sich im Laufe ihres Lebens noch dort oben ansammeln? Gab es Hirnschubladen, in denen dieser Krimskrams abgelegt wurde?
»Wanja, ich REDE mit dir. Verdammt noch mal, was ist denn los mit dir in letzter Zeit?!«
Quieks. Fauch. QUIIIIIIEKS! Paula hatte das Schwein gepackt und hieb ihre spitzen Vorderzähnchen in das weiche Gummi. Jo stand auf, packte Paula am Nacken und setzte sie samt Schwein vor die Wohnzimmertür. Empörtes Maunzen war die Antwort. Jo ließ sich wieder auf dem Sofa nieder und nahm Wanja das Buch von der Brust.
»Wanja. Mäuselwurz. Ich bin total überarbeitet, meine Nerven machen das einfach nicht mit. Und ab morgen bin ich in Frankfurt, für diese blöde Präsentation. Bitte, du, sag doch was.«
Wanja starrte Jo aus kalten Augen an. Die Nerven ihrer Mutter waren ihr so egal wie nur irgendwas.
»Muckbär. Was kuckst du denn so bös? Hab ich was falsch gemacht? Ich will doch nur wissen, was mit dir los ist. Ich bin doch deine Mutter. Du kannst mir doch alles sagen.«
Ach ja? Wanja biss sich so feste auf die Zähne, dass ihr Kiefer knackte. ICH kann DIR alles sagen, was? Und wer sagt MIR was? Wer erzählt MIR, was los ist? Ich bin DREIZEHN Jahre alt, Jo, DREIZEHN, kapiert?! Und ich erfahre keinen Pieps von NICHTS. Solange ich denken kann, macht ihr dieses RIESENGEHEIMNIS über ihn. Über den Nichtsnutz, den Lügner, den schlechten Menschen, der es nicht wert ist, dass man über ihn spricht. Sag DU mir was! DU sollst MIR sagen, was passiert ist!
»Wanja!« Jo rüttelte an Wanjas Schulter. »Meine Güte, Kind! Was ist denn bloß los? Warum SAGST du denn nichts?«
Wanja drehte den Kopf weg. Sie sagte nichts, weil diese verdammte, unsichtbare Hand ihr die Kehle zuschnürte und ihre Worte nach unten quetschte, anstatt sie rauszulassen. Sie schob Jo zur Seite, stand auf und verließ das Wohnzimmer. Paula hockte auf Jos gepackter Reisetasche im Flur und maunzte beleidigt.
Wanja stieg die Treppen hoch und legte sich ins Bett. Jo kam nicht hinterher. Erst am nächsten Morgen steckte sie den Kopf in Wanjas Zimmer. Der Radiowecker stand auf 6:38 Uhr, draußen war noch alles dunkel. Wanja war schon wach, aber als Jo an ihr Bett kam, kniff sie die Augen zu.
Leise schloss sich die Tür wieder, Jos Parfüm verlor sich im Raum und zweiundzwanzig Minuten später ging der Radiowecker an. In der Küche war der Frühstückstisch gedeckt, auf Wanjas Teller lag ein roter Apfel, in den mit einem Zahnstocher ein Zettel gepikst war.
Flora kommt direkt nach der Schule. Meine Nummer in Frankfurt hat sie.
Bis übermorgen, Jo.
Floras Pfannkuchen hießen Crêpes und waren so dünn, dass sie zusammengerollt auf die Breite einer Damenzigarre kamen. Flora aß acht, Wanja vier, Paula zwei und Brian, der sich selbst zum Essen eingeladen hatte, brachte es auf dreiundzwanzig.
»Ist Schröder jetzt gewest?«, fragte er mit vollem Mund.
»Ge-was?«, entgegnete Wanja.
Flora musste grinsen. »Meinst du vielleicht verwest?«, schlug sie vor.
»Hab ich doch gesagt.« Brian tupfte sich mit Spidermans Pfote sehr sorgfältig die Marmelade aus den Mundwinkeln. »Ist er?«
»Ich denke schon«, sagte Flora. »Zumindest sein Körper.«
»Und seine Seele fliegt rum.«
Flora lächelte.
»Bzzzzzz.« Brian ließ Spiderman durch die Luft kreisen. »Wenn ich mal tot bin, fliege ich auch rum.«
»Und wohin fliegst du dann?« Flora stellte die Teller ineinander und erhob sich vom Küchentisch.
»Na, zum Mond«, meinte Brian und schob das letzte Stück
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