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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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der sich an den Felsen entlang zur Ruine wand. Steine rutschten unter ihren Füßen weg ins Nichts. Manchmal reichte der Platz nicht aus, um die Füße nebeneinander zu stellen. Manchmal schabten die harten Felswände an Wanjas zitternder Hand. Manchmal drehte sich Mischa nach ihr um und manchmal hatte Wanja das Gefühl, niemals anzukommen.
Doch dann waren sie da und vor ihnen, von einer hohen Mauer umgeben, erhob sich die Ruine.
Bei dem Anblick der schwarzen, halb verfallenen Burg, fielen Wanja Taros Worte wieder ein. Ihre Überreste dienten damals als Gefängnis, hatte er gesagt. Jetzt waren sie Taros Gefängnis – wenn er überhaupt noch hier war. Wanja griff nach Mischas Hand und ein jäher Schreck jagte durch ihren Körper. Der Vogel, wo war der Vogel? Sie hatten ihn nicht gesehen und plötzlich wusste Wanja nicht, wovor sie sich mehr fürchtete; den Vogel zu sehen oder ihn nicht zu sehen. Denn wo er war, da war auch Taro, so viel war gewiss.
»Hast du ihn gesehen?«, flüsterte sie. Mischa schüttelte stumm mit dem Kopf und drückte ihre Hand. »Komm schon, lass uns weitergehen.«
Wanja sah an dem schwarzen Gemäuer hoch zum Himmel, an dem, als hätte er auf sie gewartet, sich langsam, ganz langsam der volle Mond hinter einer schwarzen Wolke hervorschob.
Es war so still hier, so unheimlich, so unerträglich still.
Mischa zog Wanja mit sich, zur Mauer. Sie wusste nicht, wie sie es schaffte, hinter ihm nach oben zu klettern. Ein Tor gab es nicht. Die klaffenden Lücken zwischen den kalten Steinen waren der einzige Weg.
Wanjas Hände waren aufgeschürft, als sie neben Mischa auf der Mauer saß und nach unten schaute.
»Und jetzt?«
»Wir müssen springen.«
Mischa sprang als Erster und Wanja folgte ihm, ohne nachzudenken. Als sie landete, knickte ihr Fuß um und etwas Spitzes bohrte sich tief in ihre Hand. Ein Dorn. Sie schrie auf und Mischa war mit einem Satz bei ihr.
»Bist du verletzt?«
Der Dorn ließ sich herausziehen, es schmerzte, aber schlimmer war der Fuß. Wanja stöhnte, als sie aufstand.
»Ist er gebrochen?«
»Ich … ich weiß nicht.« Vorsichtig setzte sie den Fuß auf. Es tat höllisch weh, aber gebrochen schien er nicht zu sein. »Geht schon,«, keuchte sie und humpelte neben Mischa über den verwilderten Platz auf die Ruine zu. Der modrige Geruch uralter Zeiten schlug ihr entgegen und durch Wanjas Kopf stoben Bilder von grausamen Herrschern und wehrlosen Gefangenen, von Folterkammern und nachtschwarzen Verliesen – und dazwischen, wie Blitze, immer wieder das Bild des Vogels, der Taro ergriffen und sich mit ihm in den Klauen in die Lüfte gehoben hatte, bis er hier mit ihm gelandet war. Wenn er hier gelandet war. Wo war er? Und wo war Taro?
Ein großer Torbogen führte ins Innere der Burg. Eine Decke gab es nicht, der Blick zum Himmel war offen. Sie gingen vorbei an verfallenen Räumen und abgebröckelten Wänden, stolperten über Steine, hasteten weiter und wagten nicht zu rufen, nur ihre Augen suchten fieberhaft jede Stelle in der mondfahlen Düsternis ab. Am Ende eines langen Ganges öffnete sich ein quadratischer Innenhof, in dem ein dunkler Brunnen stand. Darauf hockte ein Engel aus Stein, seine Flügel waren abgebrochen und seine Augenhöhlen klafften wie blutleere Wunden in seinem unheimlichen Gesicht.
»Da.« Mischas Finger zeigte nach links, zum Turm. Er ging vom Innenhof ab und ragte hoch in den Himmel. Eine schmale Treppe führte durch das Gemäuer nach oben. Die steinernen Stufen wanden sich in dem schmalen Schacht, höher und höher, und mit jedem Schritt kroch auch die Angst in Wanja weiter empor, als wäre sie selbst der Turm und als wäre sie selbst ihre eigene Angst. Sehen konnten sie nichts mehr, nicht einmal die Hand vor Augen. Als die Treppe endete, stieß sie an etwas Hartes. Eine Tür. Wanjas Hände tasteten sich an dem kalten Holz entlang, bis sie an die eiserne Klinke kamen. Wanja sah sich zu Mischa um, und als der ihr zunickte, drückte sie die Klinke nach unten. Mit einem lauten Knarren öffnete sich die schwere Holztür nach innen.
Wanja und Mischa traten auf die Turmterrasse.
Und dort fanden sie Taro. Er lag am Boden, ganz hinten in der Ecke und war zusammengekrümmt wie ein kleines Kind. Wanja entfuhr ein Wimmern, sie war entsetzt und erleichtert zugleich, aber sie war unfähig sich zu bewegen. Mischa war es, der vorstürzte. Durch seine Bewegung öffnete sich die Tür ganz – und Wanja sah den Vogel. Er kam aus dem Nichts und landete auf der Brüstung der

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