Die geheime Reise
Turmterrasse. Lauernd neigte er den schwarzen Kopf und sein Körper erschien ihr riesiger als je zuvor. Doch Mischa beachtete ihn gar nicht. Mit einem Satz war er bei Taro und warf sich über ihn. Der Vogel hob die gigantischen Flügel und stürzte sich auf Mischas Rücken. Mischa schlug mit beiden Armen um sich und fing wie ein Verrückter zu schreien an. »Lass ihn in Ruhe. Ich bring dich um, du gottverdammte Bestie, ICH BRING DICH UM.«
Der Vogel flatterte mit den Flügeln, sein bestialischer Geruch erfüllte die Luft und seine scharfen Krallen bohrten sich in Mischas Rücken. Dann stieß er ein schrilles, fast unerträglich lautes Kreischen aus und fing an mit seinem spitzen Schnabel auf Mischas Schultern einzuhacken. Wanja konnte es sogar hören, und während sich Mischa immer verzweifelter gegen das Monster zu wehren versuchte, lag Taro wie tot unter ihm.
In diesem Augenblick fühlte Wanja etwas in sich aufsteigen. Eine kalte, mit tiefem Hass erfüllte Ruhe legte sich über ihre Angst und deckte sie zu.
»Nein«, sagte sie mit einer seltsam fremden Stimme. »ICH bringe ihn um.«
Sie zog sich den Lederbeutel von den Schultern, holte Pfeil und Bogen heraus, strich mit dem Zeigefinger an der messerscharfen Pfeilspitze entlang, legte den Bogen an, spannte ihn und stellte sich in Position. Der Mond stand genau über ihnen und sein fahles Licht erleuchtete Mischas aussichtslosen Kampf mit der Bestie, die immer gnadenloser auf den Rücken ihres Opfers einhackte und dann, ganz plötzlich für einen kurzen Moment nach oben flog.
Jetzt.
Genau jetzt musste es geschehen.
Wanja kniff das linke Auge zu, fixierte mit dem rechten die Brust des Vogels, nahm das dumpfe Grollen wahr, das in der Ferne ertönte wie ein unterirdischer Donner, und ließ den Pfeil los, der durch die Luft schnellte – und traf.
Für einen Moment erwartete sie, dass der Vogel in Flammen aufgehen würde wie die Zielscheibe, auf die Perun mit dem Pfeil geschossen hatte. Aber der Vogel fiel nur, fiel senkrecht nach unten und landete mit einem dumpfen Aufprall neben Mischa und Taro auf dem Rücken. Wanja ließ die Hände sinken und fühlte, wie sich eine namenlose Leere in ihrem Körper ausbreitete. Mischa wandte sich stöhnend um. Seine Jacke war zerfetzt, aus einer Stelle an seinem Rücken floss Blut. Fassungslos sah er zwischen Wanja und dem Vogel hin und her.
»Du hast es geschafft«, keuchte er. »Wanja, du hast es geschafft. Du hast ihn getötet.«
Aber Wanja antwortete nicht. Sie starrte Taro an, der sich noch immer nicht bewegte, von dem sie noch immer nicht wusste, ob er tot oder lebendig war oder irgendetwas dazwischen. Dann fühlte sie ihre Angst wieder, schläfrig, aber deutlich zu neuem Leben erwacht. Und plötzlich hörte sie direkt hinter sich eine Stimme.
»Gar nichts habt ihr geschafft. Euer Kampf hat noch nicht einmal angefangen.«
Wanja fuhr herum. Amon stand in der Tür. Klein und gebeugt, auf seinen knorrigen Stock gestützt. Seine kristallenen Augen schauten fast mitleidig zu den beiden auf. Wanja starrte ihn an, als wäre er ein Geist. Und plötzlich füllte die Angst wieder ihren ganzen Körper aus. »Was? … Was sagst du da?«
Mischa erhob sich vom Boden. Sein Körper bebte vor Wut. »Was redest du da?«, schrie er den Alten an. »Der Vogel ist krepiert, Wanja hat ihn getötet, was faselst du für einen Schwachsinn?«
Der Alte schüttelte traurig den Kopf. »Habt ihr denn gar nichts verstanden?«, fragte er leise. »Dies ist kein Kampf mit äußeren Waffen. Damit könnt ihr ihm nichts anhaben.« Er deutete zum Vogel hin, der auf dem Boden neben Taro plötzlich zu zucken anfing.
»Er wird wiederkommen«, sagte der Alte. »Und wieder und wieder. Und mit jedem Mal wird er an Macht gewinnen.«
Wanja dachte an die Steine, mit denen sie das letzte Mal nach dem Vogel geworfen hatten. Auch da war er wiedergekehrt, war größer geworden. Das Zucken im Körper des Vogels wurde stärker. Er hob seinen Kopf und suchte mit dem Schnabel nach dem Pfeil in seinem Herzen, fand ihn und fing an daran zu zerren.
Eure Angst und eure Wut geben dem Vogel seine Macht.
»Was müssen wir tun?«, presste Wanja hervor. »Oh Amon, was müssen wir tun?«
Amon legte ihr die Hand auf die Schultern. »Dieser Kampf liegt in euch. Was ihr beherrschen müsst, sind eure eigenen Gefühle. Und das könnt ihr nur tun, wenn ihr ihnen ins Gesicht seht.«
Mischa sah aus, als wäre er kurz davor, dem Alten mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Aber Wanja wusste jetzt,
Weitere Kostenlose Bücher