Die geheime Reise
welchen Kampf sie zu kämpfen hatten. Sie wusste es so sicher wie bisher nichts in ihrem Leben.
Obwohl ihr Atem nur noch stoßweise ging, nahm sie Mischa an der Hand. Und zog ihn mit sich – zum Vogel.
Er lag noch immer auf dem Rücken, doch als die Kinder vor ihm standen, ließ er von dem Pfeil in seinem Herzen ab und wandte ihnen den Kopf zu.
Zum ersten Mal wurde Wanja bewusst, dass sie immer vermieden hatte die Augen anzuschauen. Die Augen des Vogels hatte sie nie gesehen.
Sie öffnete den Mund, aber das Entsetzen, das sie zu zerreißen drohte, kam nicht heraus. Ihre Panik zwang Wanja in die Knie, aber sie wandte den Blick nicht ab, sie zwang sich den Vogel anzusehen, dessen Brustkorb sich hob und senkte, stärker und kraftvoller mit jedem Atemzug. Neben sich fühlte Wanja das Zittern von Mischas Körper und wie aus weiter Ferne drang Amons Stimme in ihr Ohr. »Kämpft!«
Und Wanja kämpfte. Sie sah in die Augen des Vogels, obwohl sie das Gefühl hatte, zu ersticken. Die Augen des Vogels – waren keine Augen. Es waren Höhlen, schwarz und tief. Sie führten in einen endlosen Schacht, und je tiefer Wanja hineinsah, desto mächtiger wurde der Schrecken in ihr – ein Schrecken, der in Wahrheit Gemisch aus vielen Gefühlen war. Sie spürte die Angst und dahinter die Ohnmacht und dahinter die Traurigkeit und dahinter die Sehnsucht und dahinter wieder die Angst. Und die Höhlen, in die sie blickte, erschienen ihr plötzlich wie ein tiefer Brunnen … auf dessen Grund … sich ihr eigenes Gesicht spiegelte. Sie stöhnte, schluckte, keuchte, atmete in Stößen ein und aus, und versuchte sich verzweifelt darüber klar zu werden, woher sie dieses Gefühlsgemisch kannte, das ihr auf einmal so schrecklich vertraut erschien. Und dann, ganz langsam, stiegen die Bilder in ihr auf. Bilder aus einer anderen, weit entfernten Welt. Aus ihrer Welt.
Sie sah Jo am Tisch in der Küche sitzen, sah das Saftglas, das Jo umgestoßen hatte, als Wanja sie nach ihrem Vater fragte, sie sah ihre Großmutter, wie sie im Wohnzimmer neben ihr auf der Couch saß und mit kalten Augen an ihr vorbei ins Leere schaute, sie sah Jo am Telefon, wie sie den Hörer auflegte, wie sie die Treppen nach oben stolperte. Und dann sah sie sich selbst, wie sie zurückblieb, jedes Mal, allein, verloren, und immer wieder mit demselben Gefühl. Mit Angst und Traurigkeit, mit einer ohnmächtigen Sehnsucht im Herzen und mit einer Kehle, die sich zuschnürte wie ein Sack, jedes Mal, wenn sie versucht hatte, die Frage zu stellen, wer ihr Vater war.
Und während sie sich all dieser Gefühle bewusst wurde, ließen sie nach und machten etwas neuem Platz. Wanjas Atem ging regelmäßiger und tiefer, immer tiefer und gleichzeitig erschien es ihr, als würde der Vogel kleiner und immer kleiner. Eine ruhige, warme Kraft stieg in Wanja auf, sie kam aus tiefsten Tiefen und Wanja wusste, dass es eine Kraft war, die sie immer gehabt hatte, die ihr allein gehörte und die mit jedem Atemzug lebendiger wurde.
Vaterbilder.
Sie hatte Taro gewählt, er war all das, was sie sich immer gewünscht hatte – und das sie – auch das wusste sie jetzt – jenseits des Bildes niemals finden würde. Und der Vogel war das Gegenteil und das Gegenteil gehört immer dazu. Er war die dunkle Seite des Bildes und gleichsam die dunkle Seite ihres Herzens, die ihre Träume und Sehnsüchte zu zerstören versuchte, in Wirklichkeit aber nichts weiter als ihre eigene Angst war. Die Angst, nach ihrem Vater zu fragen, die auch eine Angst vor der Wahrheit war. Jetzt war ihr alles klar, obwohl es ihr noch immer unbegreiflich schien – und im selben Moment merkte Wanja auch, was mit Mischa geschah. Er kniete dicht neben ihr und sein Zittern war stärker geworden, aber es war nicht mehr die Wut, die ihn schüttelte.
Mischa weinte. Er weinte wie ein kleines Kind, die Tränen schossen ihm aus den Augen, seine Schultern zuckten und sein Schluchzen, damals ein sperriger, trockener Laut, war jetzt ein weicher Strom. Er weinte um zwei Väter. Um den, den er hatte, und um den, den er nicht hatte.
So hockten sie da, Seite an Seite, und sahen den Vogel an, der all seine Grausamkeit verloren hatte und klein geworden war. So klein, dass er in ihren Handflächen Platz gehabt hätte – und viel zu klein für den riesigen Pfeil, der noch immer in seiner Brust steckte.
Wanja zog ihn heraus und es blieb keine Wunde. Der Vogel drehte sich um, kam auf die Füße, flatterte mit den Flügeln, erst leicht, dann stärker, er
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