Die geheime Reise
hinter ihrem Rücken. Sie vergaß die Frau auf der Bühne, die Jugendlichen, die andern Bilder, den kleinen Raum, in dem sie sich befand. Sie stand nur da und schaute in dieses ovale, dunkelhäutige Gesicht. Ihr Blick glitt von den fein geschwungenen Lippen über die markante Nase nach oben zu den Augen. Braune, leicht schräg stehende Augen, die nicht besonders groß waren. Sie lachten, funkelten, aber es mischte sich noch etwas anderes in ihren Ausdruck. Etwas Unergründliches, vielleicht auch ein wenig Trauriges. Ein Gefühl von Sehnsucht wurde so groß in Wanja, dass es kaum noch in sie hineinpasste – und noch immer schien es weiterzuwachsen. Das Ziehen in ihrem Inneren wurde immer stärker und plötzlich hatte sie das Gefühl, als zöge das Bild an ihr, der Akrobat, sein Lächeln, seine Augen, sein ganzes Wesen.
Wanja merkte, wie sich ihre Hand hob.
Ihr Zeigefinger streckte sich nach dem Bild aus, während ihre Augen noch immer unverwandt auf den Trapezkünstler gerichtet waren. Die Fingerspitze kam näher und noch näher, Millimeter trennten sie jetzt von dem Bild.
Als Wanja die Oberfläche berührte, hatte sie das Gefühl, in Luft zu fassen. Dann fing es in ihren Ohren an zu rauschen.
Und das Gemälde vor ihr fing an sich zu drehen.
J ETZT
D as Rauschen wurde lauter und wilder und das Gemälde drehte sich schneller und schneller. Die Farben flirrten vor Wanjas Augen, der Raum schien sich seltsam auszudehnen, etwas zwang Wanja in die Knie, ein Schwindel vielleicht, sie fühlte etwas Weiches unter sich, das vorher nicht da gewesen war, einen gepolsterten Stuhl oder einen Sessel, sie wusste es nicht, sie wünschte nur, dieses Drehen würde aufhören, aufhören, aufhören …
Das Ziehen in Wanjas Innerem war jetzt so stark, dass sie es kaum noch ertragen konnte. Ihre Augen nahmen nichts mehr wahr, dafür spürte sie einen starken Sog, der etwas aus ihr herauszuziehen schien und mit diesem Etwas, sie selbst – jetzt.
Es war wie eine Befreiung. Wanja fühlte sich mit einem Mal ganz leicht. Das Drehen schien langsamer zu werden, dann hörte es ganz auf.
Wanja öffnete die Augen. Sie sah das Bild nicht mehr. Sie war auch nicht mehr in dem kleinen Raum.
D ER Z IRKUS A NIMA
Wanja saß auf einem rot gepolsterten Sessel, ganz vorne, in der Ehrenloge eines großen Zirkuszeltes. Das Zelt war bis auf den letzten Platz gefüllt, aus dem Publikum erhob sich ein tosender Applaus. Die allgemeine Begeisterung galt dem Akrobaten, der mit geneigtem Kopf auf dem Trapez saß. Er lächelte, seine Augen dankten den Zuschauern, bevor sie Wanjas Augen trafen und ihr zuzwinkerten.
Mein Bild , sagte etwas in Wanja. Ich sitze in meinem Bild.
Über der Manege auf einer Art Balkon erschien eine junge Frau. Sie trug ein enges, trägerloses Abendkleid, auf dessen blau schimmerndem Stoff hunderte von winzigen Silbersternen funkelten. Die langen schwarzen Locken fielen auf ihre zarten Schultern, ihr Gesicht mit den großen Augen und der scharfkantigen Nase hatte etwas Stolzes.
Die Frau begann zu singen, in einer fremden Sprache. Sie war dem Akrobaten zugewandt, der sich jetzt aus seiner ruhenden Haltung löste, seine beiden Hände noch fester um die Seile des Trapezes schloss und zu schaukeln begann. Wanja sah, wie sich seine Muskeln spannten und entspannten, und nahm das Wechselspiel von Kraft und Leichtigkeit wahr, das Schaukeln ausmacht. Aufstreben und fallen lassen, aufstreben und fallen lassen, immer schneller, immer höher.
Ganze Nachmittage hatte Wanja als Kind auf der Schaukel verbracht und merkte jetzt, wie dieses scheinbar vergessene Gefühl wieder in ihr wachgerufen wurde.
Der Akrobat lachte. Im Zirkus, das wusste Wanja, gehört das Lachen der Artisten zur Nummer, wird aufgesetzt wie ein Hut und wirkt beim genauen Hinsehen oft wie eine Grimasse. Das Lachen dieses Akrobaten war echt. Die Lust am Schaukeln brachte es hervor und Wanja wusste, was er fühlte. Mit seinen Bewegungen im Einklang war die Stimme der Frau, die höher und höher sang, als wolle sie ihr fremdes Lied zu ihm hinauftragen.
Im Schaukeln stellte sich der Akrobat auf das Trapez. Er warf den Kopf nach hinten, holte den Schwung aus den Knien, trieb die Schaukel noch höher und in dem Moment, in dem sein Rücken fast an die Manegendecke stieß, hörte die Frau auf zu singen, abrupt.
Die Schaukel schoss wieder nach vorne, ruhig und konzentriert stand der Trapezkünstler auf der Stange und ließ, als die Schaukel in der Mitte angekommen war, mit
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