Die geheime Reise
anderen.
Eine Frau im dunklen Umhang, hager und unheimlich, deren glattes pechschwarzes Haar ein totenkopfähnliches Gesicht mit riesigen Augen umrahmte.
Die katzenhafte Akrobatin.
Der traurige Clown.
Ein zwergenhafter Mann im schneeweißen Anzug mit einem roten Turban auf dem Kopf, den die Artisten in ihre Mitte nahmen.
Die schöne Sängerin und der dunkelhäutige Trommler.
Der Akrobat.
Er trat als Letzter in die Manege. In seinen Händen hielt er ein Saxofon und Wanja merkte, wie Mischa neben ihr scharf Luft holte, als der Akrobat vor die anderen Artisten trat, das goldene Instrument an den Mund setzte, die Augen schloss und zu spielen begann.
Wanja fand, dass Musik Geschichten erzählen konnte, auch ohne Worte, und das Abschlussstück des Akrobaten erzählte eine Geschichte von Glück und Traurigkeit, von Traum und Wirklichkeit, und davon, wie nah diese Gegensätze oft zusammenliegen. Zumindest war es die Geschichte, die Wanja darin hörte. Verstohlen wandte sie den Kopf. Mischas Hände lagen offen in seinem Schoß, sein Oberkörper war hoch aufgerichtet und seine Augen waren weit aufgerissen.
Als das Lied zu Ende war, setzte der Akrobat das Saxofon ab und reihte sich in den Halbkreis der anderen Artisten ein. Alle verbeugten sich, dann liefen sie ab, einer nach dem anderen, hinter dem letzten fiel der Vorhang.
Zirkus ANIMA las Wanja auf dem dunkelroten Stoff.
Der Applaus ebbte ab, um sie herum erhoben sich die Zuschauer und schoben sich in langen Schlangen auf den Ausgang zu. Nur Wanja und Mischa blieben sitzen, als folgten sie einem unausgesprochenen Befehl. Als sich das Zelt geleert hatte, ging der Vorhang wieder auf. Heraus kam der Akrobat. Er schien nicht überrascht die beiden noch auf ihren Plätzen vorzufinden.
Im Gegenteil, als er die beiden lächelnd zu sich winkte, schien es Wanja, als hätte er sie erwartet.
T ARO
M ischa war der Erste, der aufstand. Plötzlich fühlte sich Wanja erleichtert, dass er da war, denn während sie ihm mit zitternden Beinen folgte, machte sie eine sonderbare Erfahrung: Der Moment, in dem sich unsere tiefsten Wünsche erfüllen, erzeugt Angst.
Das Bild, das so an ihrem Innersten gezogen hatte, war Wirklichkeit geworden, wunderbare, unerklärliche Wirklichkeit. Zweifel und Verwirrung machten sich nun in Wanja breit.
»Ich versteh das alles nicht«, entfuhr es ihr, als sie und Mischa vor dem Akrobaten standen, und jetzt sprudelten auch die anderen Fragen aus ihr heraus. »Wer bist du? Was machst du hier, wie sind wir hier gelandet? Wieso holst du uns ab, kennst du uns oder kennst du ihn vielleicht?« Wanja drehte sich zu Mischa, ohne dass ihr Redestrom abbrach. »Jedenfalls kenne ich ihn nicht und wie … wie kann ein Bild verdammt noch mal lebendig sein, ich kapier das einfach nicht!«
Der Akrobat sah sie belustigt an. »Bei so vielen Fragen«, seine Stimme klang tiefer, als Wanja erwartet hatte, »kommt man mit den Antworten aber ganz schön durcheinander. Mal sehen …« Er schloss die Augen und legte den Finger an die Lippen, als riefe er sich Wanjas Wortwasserfall noch einmal in Erinnerung.
»Ich bin Taro«, sagte er dann, »und ich arbeite hier. Und ihr beiden, soweit ich das von da oben mitbekommen habe, seid aus dem Bild gestiegen. Ich hole euch ab, weil ihr meine Gäste seid, so wurde es mir jedenfalls gesagt. Wie man aus einem Bild steigen kann, erstaunt mich selbst, aber ihr seid ja da und offensichtlich«, der Akrobat kniff Wanja leicht in den Arm, »seid ihr genau wie ich aus Fleisch und Blut.«
Wanja hatte angefangen den Kopf zu schütteln, sah Hilfe suchend zu Mischa, der neben ihr stand, und schwieg, dann starrte sie wieder den Akrobaten an. Aus dem Bild gestiegen, hatte er das gesagt? Wieso aus – wenn überhaupt, dann waren sie doch in das Bild gestiegen! Wanja riss Mischa an der Jacke. »Wieso sagt der, dass wir aus dem Bild kommen, wieso wir? Wieso kneift der mich?«
Wütend drehte sich Wanja dem Akrobaten zu. » Du bist doch das Bild, du bist das doch!«
Der Akrobat zuckte mit den Schultern und deutete mit dem Kopf in die Richtung, aus der Wanja und Mischa gekommen waren. »Und was ist das?«
Wanja wirbelte herum. Inmitten der leeren Plätze, über der Ehrenloge, wo sie und Mischa gesessen hatten, hing ein großer roter Rahmen, genau wie der, der auch das Gemälde des Akrobaten umrahmt hatte. Aber in diesem Rahmen war kein Gemälde. In diesem Rahmen war Dunkelheit. Ein schwarzes Loch.
In Wanja kippte etwas. Sie stand plötzlich
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