Die geheime Reise
seinen Händen die Seile los.
Er fiel – kopfüber, pfeilschnell, kerzengerade.
Ein Netz war nicht vorhanden, auch kein Sicherheitsseil, das Trapezkünstler in gefährlichen Nummern normalerweise an ihrem Trikot befestigen.
Die Zuschauermenge war ein einziges Einatmen. Wanja drückte ihre Faust an den Mund und krallte sich mit der anderen Hand an der Lehne ihres Sitzes fest. Kaum hinsehen konnte sie, doch gleichzeitig sah es so wunderschön aus. Die hinaufschwingende Schaukel und der fallende Körper des Akrobaten. Und dann – im letzten Augenblick vor dem Sturz – hielt ihn sein linker Fuß an der Stange des Trapezes fest.
Während die Menge erleichtert zu klatschen anfing, hielt Wanja noch immer den Atem an.
Die Schaukel schwang wieder zurück und mit ihr, kopfunter, der Akrobat, der jetzt auch seinen rechten Fuß über die Stange gelegt hatte. Seine Arme baumelten entspannt in der Luft, während das Trapez langsam zur Manege heruntergelassen wurde. In deren Mitte stand ein verschlossener Korb. Wanja musste an Schröders Katzenkorb denken, nur dass dieser Korb noch größer war. Im nächsten Augenblick öffnete sich seine Tür. Ein Frauenkopf wurde sichtbar, weiß gepudert, mit schwarzer Nasenspitze. Das kurze Haar stand ihr in wilden Strähnen vom Kopf ab. Mit zwei rhythmischen Bewegungen drehte sie den Kopf, nach rechts, nach links, dann kam die Frau auf allen vieren heraus, legte sich in ihrem schwarzen Samtkostüm neben dem Korb auf die Lauer und sah nach oben. Als der Akrobat, der noch immer mit seinen Füßen an der Schaukel hing, etwa anderthalb Meter über ihr war, spannte die Katze ihre Glieder und sprang mit einem wilden Satz nach oben. Ihre Hände ergriffen seine Hände, und während das Trapez mit den beiden wieder hochgezogen wurde, kletterte sie am Körper des Akrobaten empor zur Schaukelstange.
Neben der Sängerin auf dem Balkon erschien jetzt ein dunkelhäutiger Mann. Zwischen seinen Beinen hielt er eine Trommel, auf der seine Hände in langsamem Rhythmus zu spielen anfingen, bis das Trapez die Höhe von vorhin wieder erreicht hatte und der Akrobat neben seiner Partnerin auf der Stange der Schaukel saß.
Die beiden hielten sich eng umschlugen und Wanja fühlte ein leises Stechen in ihrer Brust, das die ganze Nummer lang nicht mehr wegging.
Im Rhythmus der Trommel vollführte das Paar seine Kunststücke, die aussahen wie ein Tanz in der Luft. Ihre Körper lösten sich voneinander und fanden sich wieder, hielten sich fest und ließen sich los. Wanja hatte keine Ahnung, warum es pausenlos in ihrer Brust stach, sie war auch nicht sicher, ob sie sich diesen winzigen Moment nur einbildete, in dem sich wie ein hauchdünner Mantel ein Schatten über sie legte und aus allem die Farbe sog. Die Artisten, die Zuschauer, die ganze Manege, ja sogar sie selbst – alles war plötzlich schwarz-weiß. Doch noch ehe sich Wanja wirklich wundern konnte, war es vorbei, die Farben waren wieder da und die Nummer ging weiter, als wäre nichts geschehen.
Der Akrobat hing jetzt mit den Knien am Trapez, seine Hände umschlossen die schmalen Fußknöchel seiner ebenfalls kopfunter hängenden Partnerin. Von der Manegendecke löste sich ein zweites Trapez. Es schwang auf die beiden zu. Gemeinsam nahmen sie noch einmal Anschwung, der Rhythmus der Trommel wurde schneller – und wie auf ein unausgesprochenes Signal hin löste der Akrobat seinen Griff. Es sah aus, als hätte er seine Partnerin beim Hochschwingen in die Luft geschleudert. Ihre Hände griffen nach der zweiten Schaukel und erfassten die Stange. Der Brustkorb des Akrobaten hob und senkte sich, als er am Ende der Nummer neben seiner Partnerin auf dem Boden der Manege stand. Wieder ließen die beiden den Applaus auf sich regnen, dann schlüpfte die Akrobatin zurück in den Korb. Ein letztes Mal lächelte der Akrobat in Wanjas Richtung, bevor er mit dem Korb in der Hand aus der Manege trat. Wanja fühlte den Impuls, ihm hinterherzustürzen, aber sie war unfähig sich zu bewegen.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du deine Krallen jetzt aus meinem Arm nehmen könntest«, sagte eine Stimme neben ihr.
Sie fuhr zusammen, schaute zur Seite und riss die Augen auf. Neben ihr in der Ehrenloge saß Mischa und das, was sie für die Lehne des Sessels gehalten hatte, war seine abgewetzte Cordjacke. Blitzartig zog sie ihre Hand zurück.
»Was machst du in meinem Bild?«, fauchte sie Mischa an.
Er musterte sie, kühl und gelassen. »Das Gleiche könnte ich dich
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