Die geheime Reise
an der Schwelle eines Gefühls, das die meisten Menschen vielleicht in ihrem ganzen Leben nicht empfinden. Es war mehr eine Ahnung als ein Gefühl; ein seltsames Wissen darum, dass ab diesem Moment alles möglich war – und Wanja war bereit sich darauf einzulassen.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Wanja fühlte, wie warm sie war, und als sie sich umdrehte, schaute sie in Taros lächelndes Gesicht. Er stand jetzt dicht hinter ihnen, seine andere Hand lag auf der Schulter von Mischa, der sich ebenfalls zu dem Rahmen umgedreht hatte.
Plötzlich waren Wanja alle Fragen egal. Sie hatte ein Gefühl von Zuhause.
Der Akrobat sah von einem zum anderen. »Ich freu mich, dass ihr da seid.«
Ich mich auch, wollte Wanja erwidern, aber eine Männerstimme hinter dem Vorhang kam ihr zuvor. Sie klang wie aneinander schlagende rostige Nägel. »Taro, wo bleibt ihr denn? Wärmer wird das Essen nicht!«
Eine riesige Hand schob den Vorhang zurück und vor den dreien stand der große Mann mit den wilden Haaren, der beim Schlussapplaus mit der Fackel in der Hand in die Manege gestürmt war. Über seinen nackten Oberkörper zog sich eine lange Narbe, fast wie ein Brandmal sah sie aus. Sein rechter Oberarm war tätowiert. Ein rotes Herz mit einem schwarzen Pfeil. Noaeh stand in dunklen, geschwungenen Buchstaben darunter. Der Mann hielt seine rechte Hand vor die Brust, legte seine Linke auf den Rücken und machte vor Wanja und Mischa eine tiefe Verbeugung.
»Es ist mir eine Ehre«, sagte er, und als er lachte, klang es, als schüttelte jemand eine ganze Kiste mit Nägeln. Dann zog er sich das weiße, um seine Hüften gebundene Leinenhemd über die Schultern und hielt den dreien den Vorhang auf.
»Seid ihr bereit?«, fragte Taro. Wanja nickte. Zusammen mit Mischa folgte sie den beiden Männern durch den Hinterausgang der Manege ins Freie.
Ein kühler Wind strich ihnen entgegen. Es war dunkel, aber nicht wie im Gang, der zu dem sonderbaren Saal geführt hatte, sondern abenddunkel, draußen, an irgendeinem fremden Ort. Über ihnen leuchteten die Sterne und auf einer langen, festlich gedeckten Tafel hinter dem Zirkuszelt flackerte Kerzenlicht.
Die genaue Umgebung konnte Wanja nicht ausmachen, doch der frischen Luft und dem sternklaren Himmel nach zu urteilen, konnten sie irgendwo in den Bergen sein.
An der Tafel saßen schon die Artisten und plötzlich fühlte sich Wanja wie im Rampenlicht. Am Kopfende erhob sich der zwergenhafte Mann mit dem Turban. Er deutete auf die vier freien Plätze am anderen Ende der Tafel. »So setzt euch doch, nehmt Platz, meine lieben Gäste. Es ist reich gedeckt, wir wollen feiern!«
Taro rückte für Wanja den Stuhl nach hinten und wartete dann, bis Mischa den Platz gegenüber eingenommen hatte. Er selbst setzte sich zwischen die beiden.
Der große Kerl, der sie abgeholt hatte, zwängte sich auf den freien Stuhl an Wanjas linke Seite.
»Na, dann können wir ja anstoßen.« Der kleine Mann mit dem Turban erhob sein Glas. Die anderen Artisten taten es ihm nach. »Auf die Vorstellung«, sagte er. »Und auf die Proben, die jetzt vor uns liegen. Mögen sie erfolgreich sein. Und dann natürlich«, der kleine Mann verbeugte sich in Wanjas und Mischas Richtung, wobei seine Stirn fast an die Tischkante stieß, »ein Hoch auf unsere verehrten Gäste. Ihr seid uns allen willkommen und Taro wird es euch in unserem Zirkus so schön wie möglich machen. Nicht wahr, das wirst du, Taro?«
Taro nickte und lächelte. Der kleine Mann wollte sich gerade wieder setzen, als ihm plötzlich etwas einzufallen schien.
»Himmel, wie unhöflich«, rief er aus. »Da sitzen wir an einem Tisch und haben uns noch nicht einmal vorgestellt!«
Mit diesen Worten kletterte er auf seinen Stuhl, der ihn größer als alle anderen machte.
»Hier also«, der kleine Mann legte dem Artisten zu seiner Rechten die Hand auf die Schulter, »haben wir Reimundo, den einzigen Clown der Welt, der es fertig bringt, seine Zuschauer mit einem Lächeln zum Weinen zu bringen.«
Reimundo machte eine leichte Kopfbewegung. Er trug jetzt ein dunkles Hemd und der rote Punkt auf seiner Nase war verschwunden, aber seine großen Kinderaugen erkannte Wanja sofort wieder.
»Gata Arabiata.« Die Frau, die neben Reimundo saß, nannte ihren Namen selbst und der kleine Mann fügte hinzu: »Unsere fliegende Katze und Taros Partnerin am Trapez.«
Gata warf Taro eine Kusshand zu. Sie war jetzt ungeschminkt und das Haar stand ihr nicht mehr ganz so wild vom Kopf
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