Die geheime Reise
ab, dennoch hatte sie noch immer etwas von einer zerzausten Katze.
An Gatas rechter Seite saß der Mann mit den Blumenkohllocken. Er machte ein Gesicht, als müsse er sich ununterbrochen das Kichern verkneifen.
»Pati Tatü, unser Multitalent«, präsentierte ihn der kleine Mann vergnügt. »Er ist Zauberer, Jongleur und Einradkünstler in einer Person. Aber vor allem ist er ein Spaßvogel! Ihr dürft ihn nicht ernst nehmen, sonst ist er beleidigt und verzaubert euch in Knallfrösche.«
»In Knüllfrösche«, verbesserte der Zauberer und kicherte. Er hatte eine hohe Stimme, fast wie eine Frau. Dann griff er sich ans Haar und zog sich zum Gruß die Perücke vom Kopf. Mischa grinste und Wanja musste lachen. Die Frisur, die jetzt unter der Perücke des Zauberers zum Vorschein kam, war dieselbe wie vorher. Weißgelbe Blumenkohllocken.
»Und das ist Noaeh, unsere Sängerin.« Der kleine Mann deutete auf die Frau neben dem großen Kerl und Wanja musste sich vorbeugen, um sie sehen zu können. Noch immer trug die Frau ihr sternenbesticktes Kleid und war von nahem noch schöner als vorhin in der Manege.
»Ihren Mann Perun, unseren Herrn des Feuers, habt ihr ja bereits kennen gelernt«, sagte der kleine Mann und wandte sich der gegenüberliegenden Tafelseite zu. Hier saßen die anderen Artisten.
»Sulana, unsere Schlangenkönigin.« Der kleine Mann deutete auf das Mädchen, das an seiner linken Seite saß. Ernst und stumm sah sie aus und hatte die sonderbarsten Augen, die Wanja je gesehen hatte. Die riesigen Pupillen umrahmte eine goldgelbe Iris, sie leuchtete im Halbdunkel und war selbst von Wanjas Platz aus deutlich zu erkennen.
An Sulanas Seite saß der dunkelhäutige Trommler, der ebenfalls keinen sehr redseligen Eindruck machte.
»O«, sagte der kleine Mann, »das ist O, Sulanas Mann und vor allem: der weltbeste Trommler.« O nickte leicht mit dem Kopf, wobei er sich vor allem zu Mischa vorbeugte und ihn interessiert zu mustern schien.
»Fehlen nur noch …« Der kleine Mann deutete auf die hagere Dame in Schwarz: »… Madame Nui, die Vielfache, und an ihrer Seite Thrym und Thyra, unsere starken Zwillinge.«
Die Dame in Schwarz verbeugte sich mit einem dünnen Lächeln. Ihr bleiches Gesicht schimmerte unheimlich im Kerzenlicht.
Die beiden Muskelmenschen neben ihr hoben zum Gruß die Hände. Schon in der Manege waren sie Wanja groß vorgekommen, jetzt aber erschienen sie ihr riesig. Ihre halslosen Körper waren geballte, vor Kraft strotzende Muskelmasse und erinnerten in ihrer beinahe quadratischen Form an Pakete. Gerade als sich Wanja fragte, woran man die beiden wohl unterscheiden könnte, flüsterte Perun ihr zu: »Auseinander halten kannst du sie am besten mit geschlossenen Augen. Die, die ständig rumkrakeelt, ist Thyra, der, der still bleibt, ist Thrym.«
»WAS GIBT’S DA ZU LÄSTERN, STREICHHOLZFRESSER?!«, donnerte das eine Paket und Perun grinste. »Siehst du? Das war Thyra.«
»Und das …« Jetzt war es Taro, der auf den kleinen Mann am anderen Ende der Tafel zeigte. »… ist Baba, unser großer kleiner Mann und Zirkusdirektor.«
Baba verbeugte sich noch einmal und wieder fühlte Wanja die Blicke aller Artisten auf sich und Mischa gerichtet, wie vorhin, als Taro und Perun sie hierher geführt hatten.
Mischa schwieg. Er hatte die ganze Zeit über kein einziges Wort gesprochen.
»Ich bin Wanja«, sagte Wanja leise. Dann sah sie zu Mischa hinüber. »Das ist Mischa.«
»Wanja und Mischa!« Der Zirkusdirektor erhob noch einmal sein Glas. »Der Zirkus Anima heißt euch willkommen.«
Perun bediente sich als Erster von den Speisen und Wanja erkannte erst jetzt, was alles auf dem Tisch verteilt war. In der Mitte stand eine riesige Platte mit Fleisch, daneben dampften zwei Schüsseln, eine mit Kartoffeln, eine mit Reis. Dazu gab es Salat, einen Laib Brot, Butter und Käse.
Wanja musste an die Abende denken, an denen sie und Jo im Garten aßen, und wie es ihr dann immer so vorkam, als schmecke das Essen an der frischen Luft besser als drinnen, obwohl es das gleiche Essen war. Dieses Gefühl hatte sie hier ganz stark und plötzlich fühlte sie auch, wie hungrig sie war. Die Schüsseln wurden weitergereicht und Wanja nahm sich von allem.
Doch ihr größtes Interesse galt immer noch Taro und den anderen Artisten. Während des Essens wanderten ihre Augen ständig umher. Auch zu Mischa, der ihr gegenübersaß. Zu seinem schmalen Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Über seine Mundwinkel, die ein
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