Die geheime Reise
gezogenen Augenbrauen eine Antwort erwartete.
»Presswehen«, zischte Sue, die links neben Wanja saß, und Britta deutete auf eine Zeichnung im Sexualkundebuch, auf der aus einem ovalen Kreis der weiche Flaum eines Babykopfes zum Vorschein kam.
»Presswehen«, wiederholte Wanja, unsicher, ob in diesem Wort nun die Frage oder die Antwort lag. Britta neben ihr prustete los, aus Tinas Richtung ertönte ein wildes Quieksen und auf Frau Gordons Gesicht machte sich der Mein Gott, was können Kinder albern sein -Ausdruck breit.
Aber zumindest schienen die Presswehen sie zufrieden zu stellen, ansonsten hätte sie sich jetzt nicht mit einem kurzen Seitenblick zu Sue von Wanja abgewandt und sich vor Tinas Tisch gestellt, um sich bei ihr zu erkundigen, ob sie der Klasse freundlicherweise mitteilen könnte, was an Presswehen so komisch sei.
Tina konnte es nicht. Sie war voll und ganz damit beschäftigt, Herrin über ihren Kicheranfall zu werden, der sie mittlerweile klingen ließ wie ein aufgeregtes Schwein.
»Oink, oink«, machte Britta und erwiderte Frau Gordons strengen Gesichtsausdruck mit ihrem unschuldigsten Lächeln.
Frau Gordon lächelte zurück. »Dann willst sicher du uns etwas über Presswehen erzählen, Britta.«
Jetzt kam auch aus der Jungsecke unterdrücktes Gelächter, während es Tina nach zwei letzten Quieksern endlich gelang, ihren Kicheranfall mit der Faust im Mund zu ersticken. Sue grinste und Britta starrte mit rotem Kopf auf ihr Sexualkundebuch.
»Presswehen setzen in der Austreibungsphase ein«, flüsterte Wanja ihr zu.
»Danke, Wanja«, erwiderte Frau Gordon, die inzwischen hinter Thorsten stand und ihm den Comic wegzog, den er an Stelle seines Sexualkundeheftes auf dem Tisch liegen hatte. Und während Thorsten jetzt die Funktion der Presswehen beschreiben musste, drifteten Wanjas Gedanken wieder ab, diesmal zu ihrer eigenen Geburt, in der es zu keiner Austreibungsphase und somit auch nicht zu Presswehen gekommen war.
»War das peinlich . Ich hätte sterben können«, sagte Tina, als sie nach der Stunde zu viert auf dem Pausenhof standen.
»Das hat man gehört«, stellte Sue trocken fest und Britta schüttelte angewidert ihre blonden Haare, die sie heute, passend zur Bluse, mit zwölf pinkfarbenen Glitzerspangen geschmückt hatte. »Ich bekomme jedenfalls keine Kinder, das ist ja superekelhaft.«
»Also ekelhaft find ich’s nicht«, warf Tina ein. »Meine Mutter hat sogar gesagt, meine Geburt war das schönste Erlebnis in ihrem Leben.«
»Was soll denn daran schön sein?« Britta starrte Tina an, als hätte die gerade verkündet, dass blutige Schleimschnecken eine Delikatesse wären.
»Na dieses Gefühl eben«, gab Tina trotzig zurück. »Wenn man dann plötzlich sein Baby im Arm hält, das aus dem eigenen Bauch rausgekommen ist.«
»Aus der Vagina «, verbesserte Sue grinsend, wobei sie dem Wort Vagina die gleiche Betonung gab wie Frau Gordon in der Stunde zuvor.
»Waren eure Väter eigentlich bei der Geburt dabei?«, fragte Tina und fügte gleich hinzu: »Meiner hat sich nämlich nicht getraut.«
»Mein Dad, glaub ich, schon«, sagte Sue und Britta sagte, ihrer natürlich auch, er wäre schließlich Arzt und hätte sogar bei ihrer Geburt geholfen. Den Gedanken daran fand sie offensichtlich überhaupt nicht eklig.
»Ist dein Vater nicht Zahnarzt?«, fragte Tina, und noch ehe Britta etwas erwidern konnte, bemerkte Sue: »Wusstest du nicht, dass Brittas Dad auch auf Zähne im Muttermund spezialisiert ist?«
»Haha«, machte Britta.
»Und deiner?« Tina sah zu Wanja. »Ist dein Vater … ich meine, hat er dich denn wenigstens mal gesehen, als du geboren wurdest?«
Wanja zuckte mit den Schultern und starrte auf den Boden, Brittas warnenden Blick zu Tina nahm sie deshalb nur aus den Augenwinkeln wahr.
»Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?«, wandte sich jetzt auch Sue an Wanja. »Du stierst schon den ganzen Vormittag so verträumt in der Gegend rum und redest kein normales Wort. Is was passiert?«
»Nö, nix.« Wanja angelte nach ihrer Haarsträhne und fuhr fort den Schulhof aus den Augenwinkeln nach Mischa abzusuchen.
Das ganze Wochenende über hatte sie schon mit dem Gedanken gespielt, ihn anzurufen. Wenn sie seinen vollen Namen gewusst hätte, hätte sie es bestimmt auch getan. So groß war ihr Drang gewesen, mit jemandem zu sprechen, der genau dasselbe erlebt hatte wie sie, so sehr hatten die vergangenen Ereignisse von ihr Besitz ergriffen. Die rote Tür, der Gang, der Saal, die
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