Die geheime Reise
könnt gehen«, sagte sie.
»Können wir wieder kommen?« Die alte Frau lächelte Wanja an.
»Ja.«
»Wann?« Diese Frage stellten zwei Jugendliche gleichzeitig. Ein Junge mit einer hellblonden Igelfrisur und das Mädchen mit den Afrozöpfen.
»Wenn die Zeit da ist«, sagte die alte Frau.
»Wann ist die Zeit da?«, rief der schlaksige Junge.
Aber die Frau hatte sich bereits umgedreht. Ihr langer blauer Samtumhang schimmerte im Licht der Kerzen und Fackeln nach, bis auch der letzte Rest von ihm hinter der schmalen Seitentür verschwunden war.
Die Mädchen und Jungen blieben zurück, sie standen im Saal und tauschten Blicke. Wir kennen uns nicht, sagten die Blicke, aber wir teilen ein Geheimnis, über das wir mit niemandem sonst werden sprechen können.
Nur Mischa war nicht mehr unter ihnen, und als Wanja ihn entdeckte, war er schon auf dem Weg zur roten Tür, durch die er jetzt als Erster von allen hindurchging. Wanja war die Letzte.
Wieder war es stockdunkel im Inneren des Ganges. Aber diesmal war Wanja nicht allein. Eine Reihe von Jugendlichen war vor ihr. Ihre Schritte hallten in der Dunkelheit, und als Wanja aus der roten Tür am Ende des Ganges heraustrat, hatten sich die meisten bereits im Museum verteilt und Mischa war schon nicht mehr zu sehen.
»Das gibt’s doch gar nicht«, sagte der schlaksige Junge, der vor Wanja die Nische verlassen hatte. Er stieß sie mit seinem spitzen Ellenbogen an und zeigte auf die Wanduhr des Museums.
»Kuck mal, das gibt’s doch gar nicht.« Wanja folgte seinem Finger. Auf der Wanduhr war es zwei Minuten nach drei.
Die ist stehen geblieben, war ihr erster Gedanke. Aber warum waren dann auf ihrer Armbanduhr ebenfalls nur wenige Minuten vergangen?
Der schlaksige Junge schüttelte den Kopf.
»Ich glaub nicht, dass die stehen geblieben ist«, sagte er. »Das war bestimmt –« Er zuckte zusammen. Eine Frau mit aschblondem, hochtoupiertem Haar stand vor ihm. Sie trug ein graues, ziemlich teuer aussehendes Kostüm und der einzige Farbfleck an ihrer ganzen Erscheinung waren die schmalen, karminrot bemalten Lippen, die sich wütend aufeinander pressten.
»Was fällt dir ein das Haus zu verlassen und lediglich dem Hausmädchen Bescheid zu sagen, wo du dich herumtreibst?«, stieß sie mit schriller Stimme hervor.
Das Gesicht des Jungen sackte in sich zusammen. »Ja, aber ihr ward nicht da, um …«
»Du kannst dir deine Worte sparen«, fuhr die Frau ihm dazwischen und ihre zu dünnen Strichen gezupften Augenbrauen zogen sich jetzt fast bis zum Haaransatz hinauf. »In einer Stunde beginnt der Empfang und du weißt ganz genau, was dort von dir erwartet wird. Noch nicht mal ordentlich angezogen bist du.«
Mit diesen Worten drehte sie sich um. Der Junge ballte seine Hände zu Fäusten und sein Gesicht war plötzlich ganz rot. Doch dann senkte er den Kopf und stakste seiner Mutter mit hängenden Schultern hinterher. Wanja sah den beiden kopfschüttelnd nach. Der Junge war bestimmt schon dreizehn oder vierzehn Jahre alt und Wanja hatte keine Ahnung, was mit seinen glänzend polierten Schuhen, der dunkelblauen Cordhose und dem hellblauen Pullunder über einem tadellos gebügelten Hemd nicht in Ordnung sein sollte. Aber es war schließlich auch nicht ihr Problem.
Sie warf noch einen Blick auf ihre Uhr. Zehn nach drei. Jo und Flora würden sie also kaum vermisst haben und Wanja wunderte sich inzwischen über gar nichts mehr.
»Das war ja eine schnelle Besichtigung«, sagte Jo überrascht, als Wanja sie und Flora bei den Surrealisten gefunden hatte.
Die beiden standen vor einem riesigen Gemälde, auf dem ein Mann von einer gewaltigen Schlange verschlungen wurde, und als sich Flora neugierig bei Wanja erkundigte, welches Bild ihr von den Alten Meistern denn am besten gefallen hatte, stellte Wanja schnell eine Gegenfrage zu den Surrealisten, die Flora begeistert beantwortete.
Wanja tat, als höre sie zu. Doch ihre Gedanken waren woanders.
Weit weg und nah zugleich, an einem wunderbaren Ort.
W IE GEHT ES WEITER ?
Kannst du mir diese Frage vielleicht beantworten, Wanja Walters?«
Der Aufruf traf Wanja wie ein Pfeil, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch und holte sie zurück in die stickige Luft des mit 28 Schülern und Schülerinnen gefüllten Klassenzimmers, wo Frau Gordon in einem schwarz-grün karierten Twinset vor dem Lehrerpult stand und Wanja aus ihren dunklen Augen ansah. Es war Montagmorgen und Wanja fragte sich verzweifelt, auf welche Frage ihre Lehrerin mit hoch
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