Die geheime Reise
uralte Frau, die Bilder in den Arkaden, Vaterbilder, Vatertag, Taro, der Akrobat, seine Vorführung am Trapez, die Vorstellung, das Essen mit den Artisten, die Musik, die rote Tür, der Gang, der Saal … wie eine Endlosschleife auf Band drehten sich Wanjas Gedanken.
Wie ging es jetzt weiter?
Ging es überhaupt weiter?
Es musste weitergehen!
»Kuck mal, da ist der Penner wieder.« Britta stieß Wanja an und zeigte auf Mischa, der gerade aus dem Schulgebäude kam und an ihnen vorbei zu den Fahrradständern schlenderte. »Die Klamotten trägt der jetzt bestimmt schon seit einer Woche.«
Sue hielt sich die Nase zu, Tina fing wieder an zu kichern und Wanja machte einen Satz zurück. Ihre Hände hatten sich in den Hosentaschen zu Fäusten geballt. Sie funkelte die drei anderen an. »Wisst ihr, was ihr seid, wisst ihr das? Drei oberspießige Zicken und euer dämliches Geläster nervt mich die Hölle!«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief zurück ins Schulgebäude.
Das Klassenzimmer stand offen und Wanja griff nach ihrer Jeansjacke, die neben der Tür am Kleiderhaken hing, um sich einen Kaugummi aus der Tasche zu holen. Da entdeckte sie den Zettel. Er steckte zusammengerollt in der rechten Brusttasche, und nachdem Wanja ihn mit gerunzelter Stirn aufgerollt hatte, las sie mit klopfendem Herzen die beiden Sätze, die in kleiner, leicht geschwungener Handschrift darauf geschrieben standen.
Ich fahre heute zum Museum.
Wenn du Lust hast, triff mich dort um drei am Eingang.
Mischa Konjow
Wanja drehte sich um, als hätte sie gerade etwas streng Verbotenes getan. Hatte Mischa etwa eine Einladung oder eine Nachricht bekommen? Sie selbst hatte nichts gehört, auch nichts gesehen, obwohl sie das ganze Wochenende sehnsüchtig auf ein Zeichen gewartet hatte.
Im Schulgebäude hatte es gerade zur letzten Stunde geläutet, durch die Flügeltür traten schon ihre Klassenkameraden in den Flur, und als Wanja allen voran in ihre Klasse ging, hielt sie den Zettel fest in ihrer Hand.
Heute war Brittatag, und als Wanja neben Britta das Schulgebäude verließ, sprach keiner von ihnen den Vorfall in der Pause an. Überhaupt hatten sich die beiden wenig zu sagen. Irgendetwas war seit Brittas Bemerkung über Wanjas Vater anders. Nichts Greifbares, nichts, über das sie hätten reden können, aber Wanja spürte, dass es auch Britta nicht entging.
Beim gemeinsamen Mittagessen mit Brittas Eltern entdeckte Wanja, dass es außer Leber noch ein weiteres Gericht gab, vor dem sie abgrundtiefen Ekel empfand. Es hieß »Soufflé de cervelle« und war ein Auflauf aus Kalbshirn, laut Herrn Sander in der französischen Küche eine weit verbreitete Delikatesse.
Das Hauptthema beim Essen waren jedoch die diesjährigen Sommerferien. Herr Sander hatte die Familienreise heute Morgen von seiner Sprechstundenhilfe buchen lassen und Brittas Gesicht glühte vor Freude.
Nur Alina verzog den Mund. »Ich will aber nicht in diesen blöden Club ans Meer, ich will mit Jana und Nasrin auf den Ponyhof!«
Frau Sander legte ihrer Tochter die Hand auf den Arm, während Brittas Vater leise, aber unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass diese Diskussion für ihn beendet sei, und zwar ein für alle Mal.
Das war sie für Alina offensichtlich nicht, denn als sie wütend ihre Lippen aufeinander presste, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Im Grunde war der Cluburlaub auf den Malediven bereits seit Wochen beschlossene Sache. Herr Sander hatte den Reisekatalog damals aus der Praxis mitgebracht und Britta war von seinem Vorschlag so begeistert gewesen, dass sie den ganzen Nachmittag und den ganzen nächsten Tag in der Schule von nichts anderem gesprochen hatte. Sogar von Herrn Schönhaupt hatte sich Britta eine Rüge eingehandelt, weil sie Sue während des Unterrichtes den Luxusclub im Katalog gezeigt und neben die fünf goldenen Sterne ein rotes Ausrufezeichen gemalt hatte.
»Eine Waaahnsinnsanlage«, hatte sie in der Pause verkündet und Sue und Tina die Angebotspalette vorgelesen, die von Volleyball am Strand über Tennis in der Clubanlage bis hin zu Tagesausflügen auf traumschiffartigen Segelyachten reichte. Nur Ponyreiten wurde dort nicht angeboten. »Und daraus«, hatte Britta gestöhnt, »macht Alina jetzt das Riesendrama!«
»Kann ich verstehen«, hatte Tina gemeint, die ebenfalls seit Wochen von ihrem bevorstehenden Reiturlaub auf einer kleinen Nordseeinsel schwärmte.
Brittas Vater verstand es nicht.
»Andere Kinder wären froh und dankbar, wenn sie
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