Die geheime Reise
kapiert?«
Wanja nickte, langsam und ebenso mechanisch wie sie Jos verdammt gezählt hatte, drei Stück waren es gewesen und das Einzige, was jetzt noch zu hören war, waren die dunklen Tropfen des Saftes, die vom Tisch auf den Küchenboden fielen.
Jo rannte raus, Wanja blieb sitzen, reglos, wie betäubt. Schröder weckte sie aus ihrer Starre, als er maunzend seinen dicken Kopf durch die Küchentür schob. Inzwischen war bestimmt eine halbe Stunde vergangen. Wanja stand auf, nahm Schröder auf den Arm, stieg über die Scherben am Boden aus der Küche und wollte sich an der geöffneten Wohnzimmertür vorbei auf ihr Zimmer schleichen, als Jos Stimme sie zurückhielt.
»Es tut mir Leid.« Jo saß auf dem Sofa, sie hatte Wanja den Rücken zugedreht. Wanja blieb im Türrahmen stehen und starrte auf die schwarzen Locken ihrer Mutter, die hinter der Sofalehne hervorkamen.
»Schon okay«, entgegnete sie nach endlosen Sekunden und dachte daran, dass sie dieselben Worte neulich zu Britta gesagt hatte.
Jo ging zum Fernseher und stellte ihn an. Wanja stand noch eine Weile in der Tür, bevor sie sich auf ihrem Platz im Schaukelstuhl niederließ.
Ein Krimi lief, Mutter und Tochter starrten krampfhaft auf die Mattscheibe und Wanja war sich dabei bewusst, dass Jo ebenso wenig vom Film mitbekam, wie sie selbst.
Als Jo aufstand, um die Küche aufzuräumen, stieg im Fernsehen gerade der Kriminalbeamte in sein Auto, um die Verfolgung zweier Männer aufzunehmen. Blaulicht, quietschende Reifen – und plötzlich eine Störung. Das Bild flimmerte, wurde dunkel, und als die Störung endete, war die Bildfläche umrandet – von einem leuchtend roten Rahmen.
Auf der weißen Innenfläche erschien eine schwarze Schrift.
Es geht weiter. Der zweite Besuchstag findet am 12. Juni um 14:00 Uhr statt. Erscheine pünktlich bei der roten Tür in der Kunsthalle, Abteilung Alte Meister.
Wanja schnappte nach Luft. Ganz heiß war ihr geworden und sie fühlte eine unbändige Freude in sich aufsteigen, gefolgt von der Frage, wie sie die Zeit bis zum 12. Juni überstehen sollte.
Schon war der Rahmen wieder verschwunden, und als Jo ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte der Kriminalbeamte die beiden Männer überführt.
Kurz darauf ging Wanja in ihr Zimmer.
K EIN KONTAKT BIS VIERTEL VOR ZWEI
Was hast du von dem Penner gewollt? Seid ihr jetzt etwa befreundet???«
Nachdem Wanja den Zettel, den ihr Britta nach der Pause im Matheunterricht zuschob, überflogen hatte, zerknüllte sie ihn, legte ihn auf den kleinen Papierberg, der sich bereits neben ihrem Heft gebildet hatte, und beugte sich wieder über ihre Aufgaben. Die Stunde war in fünfzehn Minuten zu Ende und im Gegensatz zu Britta, die mit ihren Aufgaben längst fertig war – »vorbildlich, Britta, du kannst dich dann schon mal mit dem nächsten Kapitel beschäftigen« –, hing Wanja noch immer an der zweiten Aufgabe fest.
»Zu dumm, Fräulein Walters, wirklich zu dumm, wenn man nicht weiß, was üben heißt, nicht wahr? Ich sagte, nicht wahr ?« Herr Schönhaupt stand vor ihrem Tisch und sah aus seinen 1,95 Metern Höhe auf sie herab. Du kannst dir dein nicht wahr in die Haare schmieren, du Fettkopf, dachte Wanja, als sie mit stummem Hass die kalten Augen ihres Mathelehrers fixierte. Er hielt ihren Blick eine Weile lang fest, dann kritzelte er etwas in sein schwarzes Notizheft und wandte sich mit einem dünnen Lächeln von Wanja ab.
Auf dem nächsten Zettel, den Britta ihr heimlich zuschob, standen die Lösungen für die restlichen Aufgaben. Wanja nahm sie mit einem dankbaren Kopfnicken entgegen. Aber Brittas ersten Zettel würde sie nicht beantworten. Was hätte sie ihr auch sagen sollen? Dass
sie mit dem Penner ein lebendig gewordenes Bild in einer Ausstellung namens Vaterbilder teilte und dass sie jetzt wissen wollte, ob auch er die Nachricht für den zweiten Besuchstag bekommen hatte? Wanja kannte niemanden, dem sie das hätte erzählen können, aber dass Britta die Allerletzte war, die damit etwas anzufangen wüsste, war ihr sonnenklar. Verdammt, warum hatten die Mädchen sie überhaupt gesehen?
Gleich nach dem Deutschunterricht hatte Wanja ihre Jacke gegriffen und war auf den Schulhof gerannt, in der Hoffnung, Mischa dort zu treffen, bevor die anderen kamen. Sie hatte Glück, Mischa stand wie bestellt an seinem Platz bei den Fahrradständern, aber als ihn Wanja auf die Nachricht ansprach, deutete er statt einer Antwort in Richtung Schulgebäude. »Ich glaube,
Weitere Kostenlose Bücher