Die geheime Reise
schnell, als Mischa sein Fahrrad weiter geradeaus schieben wollte, hinzu: »Was glaubst eigentlich du? Wie kann das sein, dass ein Bild lebendig wird? Was ist das für ein Ort, in den wir da hineingeraten sind?«
Mischa schwang sich auf den Sattel und sah sich noch einmal zu Wanja um. »Ein guter Ort«, entgegnete er und mit diesen Worten fuhr er los.
Als Wanja das Gartentörchen aufstieß, fiel ihr als Erstes das Steinschwein auf, das vor ihrer Haustür stand. Es stand auf den Hinterbeinen und hatte wie zum Gruß beide Arme ausgebreitet.
»Sie heißt Yolanda«, verkündete Jo, die im Türrahmen lehnte und Wanja entgegenlächelte. Sie trug ein gelbes TShirt und wirkte so entspannt, als hätte sie mindestens zwei Stunden Joga hinter sich. »Neue Gartenstühle haben wir auch – aber jetzt guck erst mal, was in deinem Zimmer steht.«
In Wanjas Zimmer stand das rote Metallregal, das sie sich seit Wochen wünschte.
»Tja, und Yolanda hab ich unterwegs entdeckt,«, verkündete Jo, als sie und Wanja am Abendbrottisch saßen. »Sie stand vor einem Laden auf der Bismarckstraße und ich war so verliebt, dass ich aussteigen und sie kaufen musste. Gefällt sie dir?«
»Ja, ist nett.« Wanja bestreute ihr Spiegelei mit Salz und fütterte Schröder, der ihr, wie immer, beim Essen auf den Schoß gesprungen war, mit einem Stück gebratenem Speck, was sein Schnurren um das Dreifache anschwellen ließ.
»Und wie war’s in der Schule?«
Wanja schob sich ein Stück Spiegeleibrot in den Mund. Das Eigelb sparte sie sich immer bis zum Schluss auf, während Jo ihre Gabel gleich zu Anfang in die goldene Mitte pikste und das Eigelb auslaufen ließ.
»Okay«, sagte Wanja wieder. »Wir haben gerade Sexualkunde bei Frau Gordon.«
Jo grinste. »Und? Bist du jetzt bestens im Bilde?«
Wanja antwortete nicht. Sie hielt Schröder noch ein Stück Speck hin und bat Jo ihr von ihrer Geburt zu erzählen.
»Och Schnurpsel, geh mir jetzt nicht damit auf die Nerven, ich hab dir das alles doch schon mal erzählt.« Jo tunkte ihr Stück Brot in ihre Eigelbsauce und legte die Stirn in Falten.
»Aber das ist jetzt mindestens fünf Jahre her«, beharrte Wanja. Sie kraulte Schröder am Kopf und bettelte so lange weiter, bis ihre Mutter stöhnend nachgab.
»Es war ein Samstag, du kleine Quengelgurke, und es war heiß. Ungewöhnlich heiß für September, es war ein richtiger Sommertag und schon am Nachmittag hatte ich dieses leichte Stechen im Bauch. Ich hatte mir vorgenommen, gleich montags zum Arzt zu gehen, aber dann passierte es. Ich bin aufgewacht, weil ich in einer riesigen Pfütze lag, und zuerst dachte ich, ich hätte ins Bett gepinkelt.«
Wanja grinste, hörte aber sofort auf, als sie Jos düsteres Gesicht sah, das sie nicht deuten konnte. »Im nächsten Moment«, fuhr ihre Mutter fort, »wurde mir klar, dass meine Fruchtblase geplatzt war. Dein Stichtag war eigentlich erst zwei Wochen später, vielleicht ist es mir deshalb nicht gleich in den Sinn gekommen. Ich bestellte einen Krankenwagen und dann rief ich Flora an. Als ich zwanzig Minuten später mit Tatütata im Krankenhaus ankam, war sie schon da, die gute, alte Flora.«
Jos Gesicht wurde zärtlich, Wanja hatte aufgehört zu essen und sah ihre Mutter still an, während sich Schröder auf ihrem Schoß zum Schlafen zusammenrollte.
»Im Krankenhaus ging alles sehr schnell«, erzählte Jo weiter. »Die Wehen hatten schon im Krankenwagen angefangen, die waren verdammt heftig, sag ich dir, aber es waren noch keine Presswehen, sondern diese Art von Wehen, die dich zum Wahnsinn treiben. Wie Flutwellen, ich hatte wirklich das Gefühl, es seien Wellen in mir, die dich mit aller Kraft nach unten spülten und im nächsten Moment wieder zurück nach oben saugten. Eine gute halbe Stunde ging das so, aber die Schmerzen wurden immer unerträglicher.«
Wieder verzog sich Jos Mund zu einem Lächeln. »Die arme Flora hatte richtige Wunden am Arm, so sehr habe ich mich an ihr festgekrallt. Aber sie hat nur neben mir gestanden, mir mit der freien Hand über die Haare gestreichelt und ›Ja‹, gesagt. Immer wieder. ›Ja. Ja. Ja.‹«
Wanja wischte sich über die Augen. Dann fiel ihr Mischa ein, die Trapeznummer im Zirkus, Mischas Cordjacke, die sie vor lauter Aufregung mit der Sessellehne verwechselt hatte.
»Plötzlich wurde die Hebamme hektisch«, sagte Jo. »Die Geräte, an die ich angeschlossen war, piepsten anders als vorher, das waren deine Herztöne, die sich verändert hatten, und beim Ultraschall kam dann
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