Die geheime Reise
Glocke, die Mischa umgab, denn im Grunde gab es niemanden, der mit ihm sprach, bei ihm stand oder auf ihn zuging. Es ärgerte ihn auch niemand, und wenn sich Schüler über ihn lustig machten, dann taten sie das aus sicherem Abstand, so wie Britta, Sue und Tina, die heute allerdings viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um sich über Penner in abgewetzten Cordjacken und zerschlissenen Hosen zu unterhalten.
»Und für die Abendgala im Club hat Paps mir sogar ein richtiges Cocktailkleid gekauft«, kam es gerade von Britta, als Wanja aus den Augenwinkeln Mischa die vier Finger seiner rechten Hand heben sah. Sie nickte ihm zu und fragte sich, ob seine Einladung auch die Rückenansicht eines Buches gewesen war.
»Bei mir war’s das Englischbuch«, sagte Mischa. Es war kurz vor vier und Wanja schob ihr Fahrrad neben seinem vor der Kunsthalle in den Fahrradständer.
»Und bei mir war’s der neue Harry Potter. Zauberhaft, was?«
Überrascht drehte sich Wanja um. Die Stimme kam von Alex, sie hatte sein Kommen gar nicht bemerkt. Er stand neben den Fahrrädern, sein Gesicht war braun gebrannt, seine grünen Augen funkelten und seine Haltung, dachte Wanja überrascht, wirkte gar nicht mehr so schlaksig wie noch vor ein paar Monaten. Er strich sich das Haar aus den Augen und grinste. »Ist euch eigentlich aufgefallen, dass die ihre Besuchszeiten genau um unsere Sommerferien herumgelegt haben?«
»Vielleicht brauchten die Vaterbilder ja auch Ferien«, schlug Mischa vor und Alex starrte ihn verwundert an. »Seit wann sprichst du denn freiwillig?«
Mischa schwieg und Wanja unterdrückte ein Lachen. Aber Alex hatte völlig Recht. Vor ein paar Monaten wäre ein solcher Satz noch nicht aus Mischas Mund gekommen und die unsichtbare Glocke, die ihn eben noch umgeben hatte, war zumindest für diesen Moment verschwunden. Wanja legte ihre Hand auf Mischas Rücken und schob ihn in Richtung Treppe. »Los jetzt, Jungs, ich will hier keine Wurzeln schlagen.«
In der Mitte der Eingangshalle, die nach frischer Farbe roch, war eine große Trittleiter aufgestellt. Daneben standen Farbeimer, und während Wanja noch überlegte, um wessen Lebenswerk es sich wohl diesmal handelte, wurden Leiter und Töpfe von zwei Männern in weißen Latzhosen entfernt. Mischa grinste, als habe er Wanjas Gedanken erraten. Dann stieß er sie an.
»Sag mal«, murmelte er, »kannst du … kannst du mir einen Euro für den Eintritt pumpen?«
Wanja, der nicht entging, wie viel Überwindung Mischa diese Frage kostete, hielt ihm den Euro hin. »Na logo. Komm, lass uns zahlen, es ist schon fast vier durch.«
Hinter ihnen stand jetzt auch Natalie, atemlos, als sei sie gerannt. Ihre sonst milchkaffeefarbene Haut war schokoladendunkel und Wanja wurde zum ersten Mal bewusst, dass auch dunkelhäutige Menschen von der Sonne brauner wurden.
»Wo bist du gewesen?«
Natalie, die noch immer nach Atem rang, zog einen Fünfeuroschein aus ihrer Westentasche und verzog das Gesicht. »Ich musste noch einkaufen und die Küche machen.«
»Nee«, Wanja grinste. »Wo du im Urlaub warst, meine ich.«
Natalies Gesichtsausdruck veränderte sich. Ihre dunklen Augen wurden noch schwärzer und ihre vollen Lippen pressten sich aufeinander. »Bei meinen Großeltern in Kuba«, gab sie leise zur Antwort und Wanja fragte sich verwirrt, was daran so traurig war. Dann schaute Natalie wieder hoch und schüttelte den Kopf, als wolle sie einen unangenehmen Gedanken herausschütteln. »Was ist, gehn wir rein?«
Wanja und Alex traten als Erste durch die rote Tür in den Gang. Im Saal schwirrte es heute nur so vor Ungeduld. Der Kopf des dicken Jungen glühte förmlich, der Junge mit der blonden Igelfrisur sah aus, als wolle er seine Unterlippe zernagen, und das Mädchen mit den grünen Haaren starrte sehnsüchtig auf eine der Arkaden. Auch jetzt wieder fragte sich Wanja, was wohl die anderen in ihren Bildern erlebten, vor allem Natalie und Alex, denen sie am nächsten stand. Aber die stillschweigende Vereinbarung, ihre Erlebnisse für sich zu behalten, schien immer noch gelten. »Ich möchte zu gerne wissen, was hinter der Tür ist«, flüsterte Natalie ihr zu, als die uralte Frau in ihrem Samtumhang auf die Bühne trat. Die unscheinbare Tür hatte Wanja auch schon beschäftigt, doch als sie der alten Frau in die Augen sah, musste sie an ihre Urgroßmutter denken.
»Seid ihr so weit?« Die alte Frau hatte den gusseisernen Pinselkopf bereits in der Hand. Das leise Klingeln ertönte und
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