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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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nicht der Typ, der etwas von anderen erwartete, und genau das hatte er mit Taro gemeinsam. Unvermittelt drehte sich Taro zu ihr um. »Ich habe keine Ahnung, was Amon gemeint hat.«
    Als sie kurz darauf – es war wirklich kein weiter Weg gewesen – den Wald verließen, empfing sie warmer Sonnenschein und Wanja hielt den Atem an. Vor ihr lag das Ende der Welt.
    Schon von Taros Wohnwagen aus hatte sie den Abgrund gesehen, aber da war ihr schwindelig gewesen, weil sie so plötzlich an den Rand herangetreten war. Dieser Abgrund war anders. Es war ein unermesslich großer Kreis, der schräg von der terrassenartigen Fläche, auf der sie standen, abfiel. Das Tal, das tief, tief unter ihnen lag, bestand aus satt grüner Erde, hellem, fast weißem Stein und einem winzigen türkisfarbenen Farbtupfer, der sicherlich ein See war. Auf der gegenüberliegenden Seite des Abgrunds taten sich Berge auf. Mit ihren runden Gipfeln wirkten sie wie aufgeschüttelte Daunenkissen aus sandfarbenem Stoff. Ja, dachte Wanja, sie sehen weich aus, obwohl sie hart waren, hart und unnachgiebig. Ihr kam der Ausdruck »felsenfest« in den Sinn und niemand hätte ihn schöner beleben können, als die sanften Riesen, die hier in stiller Eintracht beieinander standen.
    Taro drehte sich zu Wanja um und zwinkerte ihr zu. Mischa war dicht neben ihr, auch er stand ganz still und schaute mit großen Augen in die Berge.
    Die Aussicht zur linken Seite war von einem breiten Felsvorsprung versperrt und auch die Felsen auf der rechten Seite machten eine Biegung, auf die Taro jetzt zuging. Vorsichtig betrat er den schmalen, steinernen Pfad, der sich die Felswand entlangschlängelte. Wanja stieg von Sandeshs Rücken und folgte ihm, zusammen mit Mischa. Kleine Steinchen rutschten unter ihren Füßen weg und fielen in die Tiefe, als sie langsam hinter Mischa und Taro herging, wobei sie sich mit der rechten Hand an der Felswand festhielt. Nach unten zu schauen, wagte sie erst wieder, als sie bei einer Art natürlichem, in die Felswand eingelassenem Balkon ankamen.

    Taro ließ sich im Schneidersitz nieder, Wanja und Mischa taten es ihm nach. Keiner sprach.
    Stille kann peinlich sein, drückend, verbissen oder unheimlich. Stille kann Stillstand bedeuten, wie bei Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben, oder sie kann durch Einsamkeit entstehen, wie bei Menschen, die niemanden mehr haben, dem sie etwas sagen können. Die Stille, die Wanja hier umgab, hatte nichts von alledem. Es war die seltene Form der Stille, die groß und vollkommen ist, und die noch reicher wird, wenn man sie mit Menschen teilt, die einem nahe sind.
    Lange saßen die drei nebeneinander und schauten und schwiegen. Seltsamerweise war es Mischa, der als Erster die Worte wieder fand. »Hast du was dabei, Taro?«
    Taro strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Er saß zwischen Wanja und Mischa und an Stelle einer Antwort öffnete Taro den Rucksack. Er zog eine kleine, metallene Trommel und einen dunklen Holzkasten hervor. Die Trommel reichte er Mischa, den Kasten nahm er selbst in die Hand. Erst beim genaueren Hinsehen erkannte Wanja, dass es ein Instrument war. Es hatte Knöpfe auf der einen Seite, wie eine Ziehharmonika, und als Taro den Kasten aufklappte, kam dahinter ein Fächer zum Vorschein. Während Mischa die Trommel auf seinen Schoß nahm, begann Taro den Kasten zwischen Daumen und Handfläche langsam auf und zu zu klappen. Erst hörte Wanja nur einen leisen Wind, der sich dann jedoch in Töne verwandelte, sanfte, wellenartige Töne. Sie schwebten in der Luft, erfüllten die Stille und in sie hinein mischten sich jetzt die hellen, festeren Töne der Trommel, auf die Mischa mit den Fingerspitzen schlug. Taro und Mischa wurden eins in ihrem Spiel, aber diesmal gehörte Wanja dazu, ebenso wie die Berge, die ihr plötzlich wie die hohen Ränder einer riesigen Schale vorkamen, die die Musik in sich aufnahm.
    Wanja hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging, wie viele Stücke wortlos entstanden und wieder vergingen, doch irgendwann bog die Sonne um die rechte Felsenwand und der Himmel färbte sich rötlich. Taro schloss den hölzernen Kasten, Mischas Hände lösten sich von der Trommel. Taro nickte ihnen, nachdem er die Instrumente wieder im Rucksack verstaut hatte, zu. »Wir sollten gehen, ehe der Gong ertönt.«
    Wanja rieb sich die steif gewordenen Beine und stieg langsam hinter Taro her aus ihrem steinernen Balkon. Doch als sie wieder auf dem schmalen Pfad stand, blieb sie so

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