Die geheime Reise
tunkte den Pfeil in die Flüssigkeit, legte den Bogen an, spannte, zielte, schoss und – traf daneben. Der Pfeil flog am Baum vorbei und landete im Gras. Taro zwinkerte Wanja zu, Mischa grinste und Perun warf fluchend den Bogen auf die Erde.
»Hab gehört, was mit Gata passiert ist«, sagte er und wischte sich die ölverschmierten Hände an der Hose ab.
Taro nickte. »Wird schon«, entgegnete er und Wanja fragte sich, woher Taro diese Gelassenheit nahm. Musste er nicht fürchten, dass ihr Auftritt durch Gatas Unfall ins Wasser fiel? Taro wandte sich zum Gehen und bedeutete Wanja und Mischa mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen.
»Ich wollte mit euch einen Ausflug machen. Habt ihr Lust?« Taro schlug die Richtung zur Weide ein und Wanja stieß Mischa an. »Ich ja. Und du?«
»Klar, gern. Nur …« Mischa drehte sich unsicher zur Manege um. »Was ist mit dem Gong?«
Taro lächelte. »Ihr seit doch gerade erst gekommen. Ich denke, für einen Spaziergang haben wir Zeit. Es ist auch nicht besonders weit.«
Als sie vor dem Holztor standen, erwartete Sandesh sie bereits. Er rieb seine samtigen Nüstern an Taros Handfläche und stieß dann mit der Stirn das nur angelehnte Tor auf. Wanja strich langsam über das Fell des Pferdes. Die weißen Stellen glänzten in der Sonne wie Schnee und fühlten sich warm an, während die schwarzen ganz heiß waren, weil sie die Sonne stärker anzogen.
Wanjas Wunsch, auf Sandesh zu reiten, erfüllte sich, ohne dass sie ihn aussprechen musste. Nachdem Taro einen Rucksack aus seinem Wohnwagen geholt und mit ihnen in den kleinen Waldweg eingebogen war, half er Wanja auf den Rücken des Pferdes. Amons Wohnwagen, hinter dem der Wald begann, war verschlossen. Gata war also anscheinend schon wieder weg und Wanja verdrängte die Erinnerung an den Alten. Sie wollte keine Fragen stellen. Jetzt nicht.
In ihrem Wäldchen zu Hause gab es einen Reiterhof, bei dem Wanja früher manchmal ausgeholfen hatte. Aber die Ponys, auf denen sie dort geritten war, waren lahm und störrisch und taten ihr Leid, weil sie ein Leben in Gefangenschaft lebten, das ihre Augen stumpf und ausdruckslos hatte werden lassen.
Sandesh trug weder Zaumzeug noch Sattel, seine schwarzen Augen glänzten und sein Gang war so weich und federnd, dass sich Wanja fühlte wie auf Wolken. Mischa und Taro gingen rechts und links neben ihr, die kühle Waldluft streifte ihre Haut, Sonnenstrahlen blitzten zwischen den in hellen Grüntönen leuchtenden Baumkronen hervor und tanzten auf den am Boden liegenden Blättern. Bis auf das leise Auftreten von Sandeshs Hufen war alles still.
Erst ein Rascheln im Laub ließ Wanja zusammenfahren. Ein umgestürzter Baum versperrte ihnen den Weg. Fast weiß waren die Stellen, an denen das Holz gesplittert war. Urplötzlich stand der alte Mann vor ihnen auf dem Waldweg. Amon. In seinen wirren weißen Haaren hatten sich Blätter verfangen und sein von Falten zerfurchtes Gesicht sah selbst im hellen Sonnenlicht unheimlich aus.
Mischa hatte seine Hand auf Sandeshs Rücken gelegt, während Taro dem Alten zunickte. »War Gata bei dir?«
Der Alte nickte. »Mit ihr ist alles in Ordnung.«
Seine Stimme klingt sanft, dachte Wanja überrascht. Der Alte war schon fast an ihnen vorbeigehumpelt, als er sich noch einmal umdrehte. »Aber du solltest dich vorsehen, mein Sohn.«
Mischa nahm seine Hand von Sandeshs Rücken. Taro war weitergegangen und auch Sandesh setzte sich wieder in Bewegung. Wanja fröstelte. Gerade wollte sie Taro fragen, was der Alte gemeint hatte, da sah sie die Höhle am Wegrand. Hier musste der Alte hergekommen sein. Die Öffnung war mit Zweigen und Laub verdeckt, doch wenn man genau hinsah, konnte man den kreisrunden Eingang erkennen.
»Was ist das für eine Höhle?«, wollte Wanja wissen und drehte sich auf Sandeshs Rücken um.
»Diese Höhle ist ein besonderer Ort«, sagte Taro.
»Was für ein Ort? Inwiefern besonders?« Wanja verzog den Mund. Warum musste Taro eigentlich immer in Rätseln sprechen?
Taro lächelte Wanja an, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Vielleicht seht ihr ihn eines Tages, aber heute möchte ich euch etwas anderes zeigen, in Ordnung?«
Wanja nickte, doch das Schweigen, mit dem sie das letzte Stück Waldweg zurücklegten, war ein anderes. Ärger stieg in Wanja auf, weil sie an Stelle von Antworten immer nur auf neue Fragen stieß. Und warum konnte Mischa nicht auch mal den Mund aufmachen? Erwartete er etwa, dass sie hier alles in die Hand nahm? Nein, Mischa war
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