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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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zu, »hast, wie ich hörte, neulich auch eine nächtliche Bekanntschaft gemacht?«
    Wanja grinste, aber im Gegensatz zu Flora war Jo nicht zum Lachen zu Mute. Sie machte ein so wütendes Gesicht, dass Flora rasch das Thema wechselte. »Sagt doch mal, habt ihr zufällig noch ein paar alte Verkleidungssachen, irgendwo? Ich wollte mit meiner neuen Fünf die sieben Raben aufführen und mir fehlt noch ein schwarzer Umhang. Warst du nicht irgendwann mal Zauberer, Wanja? Oder Vampir? Ich meine, du hättest damals so ein Teil getragen.«

    Wanja nickte. »Vampir bin ich gewesen. Meinst du, wir haben den Umhang noch, Jo?«
    »Vielleicht auf dem Dachboden. Du kannst morgen ja mal nachschauen.«
    Jo winkte dem Kellner, und als Wanja eine Stunde später satt, zufrieden und müde im Bett lag, schlief sie zum ersten Mal seit Wochen tief und traumlos.
    Nach einem ausgedehnten Frühstück am nächsten Morgen setzte sich Jo zum Arbeiten in ihr Schlafzimmer an den Computer und Wanja beschloss auf dem Dachboden nach ihrem alten Vampirkostüm zu suchen.
    Quietschend öffnete sich die weiße Holztür. Steil nach oben führten die sieben dunkelrot gestrichenen Treppenstufen, und als Wanja auf der letzten angekommen war, schlug ihr muffige Luft entgegen. Elektrisches Licht gab es auf dem Boden nicht, aber die spärlichen, durch die verdreckte Dachluke fallenden Sonnenstrahlen reichten aus.
    Wanja schaute sich auf dem riesigen Boden um; seit einer Ewigkeit hatte sie ihn nicht mehr betreten. Der Boden bestand aus zwei ineinander übergehenden Räumen, deren Ende auf den ungenutzten, leer stehenden Heuboden führte. Früher hatte Jo oft davon gesprochen, den Dachboden in eine Bibliothek umzuwandeln, aber dafür fehlten Hände. Männerhände, dachte Wanja. Stattdessen war der Dachboden ihr geheimes Reich geworden. Mit einem Schmunzeln dachte Wanja daran, wie oft sie hier früher gespielt hatte, auch mit Britta und manchmal sogar mit Baby-Brian. Ein Königreich an Verkleidungsmöglichkeiten hatten die Hinterlassenschaften der ehemaligen Hausbesitzerin ihnen geboten. Es gab Rüschenblusen, lange Kleider, durchlöcherte Schals, staubige Mäntel und abgewetzte Hüte … Sogar hochhackige Schuhe und eine Schatulle mit wertlosem Schmuck lagen im Schrank.
    Wanja öffnete die zersplitterten Türen – und mit den Kleidern tauchten die Erinnerungen wieder auf. In dem rosa Spitzenkleid und den viel zu großen weißen Lackschuhen war Britta als feine Dame auf dem Dachboden herumstolziert, während Wanja ihre Dienerin sein und ihr die Haare kämmen sollte. In den löchrigen Seidenschal hatten sie Baby-Brian eingewickelt und mit ihm das Krippenspiel einstudiert. Britta war natürlich Maria gewesen, Wanja Josef und Brian das Jesuskind. Als Wanja daran dachte, wie der kleine Kerl aus der zu einer Krippe umfunktionierten Schubkarre gekippt war und das ganze Haus zusammengebrüllt hatte, lachte sie laut auf.
    Dann schloss sie den Schrank und ging auf die vielen Kisten zu, die sich im hinteren Teil des Raumes stapelten, gefüllt mit Schallplatten, Büchern und Spielen. Im zweiten Raum standen alte Möbel, ebenfalls Erbstücke der alten Hausbesitzerin. Abgenutzte Sessel, eine altmodische Couch, zwei Nachttischchen und die riesige Kleidertruhe, deren schwere Klappe Wanja jetzt öffnete. Richtig, hier waren sie, ihre alten Faschingskostüme, von denen die meisten ihre Großmutter genäht hatte. Ein Katzenkostüm aus grauem Samt, die braune Indianerjacke mit aufgestickten Mustern und angenähten Fransen, das bunte Clownskostüm und ganz unten der schwarz glänzende Vampirumhang mit dem leuchtend roten Innenkragen. Den hatte Jo ihr gekauft. Acht oder neun war Wanja gewesen und sie erinnerte sich, wie Flora ihr damals das bleiche Gesicht und die blutunterlaufenen Augen geschminkt hatte.
    Wanja hängte sich den Umhang um den Hals und wollte gerade wieder nach unten gehen, als sie mit dem Ellenbogen an etwas Hartes stieß. Autsch! Sie rieb sich den schmerzenden Musikantenknochen und trat wütend gegen Jos alten Sekretär, als trüge er die Schuld an dem Zusammenstoß. »Böser Tisch, böser Stuhl, böser Schrank«, hatte ihre Großmutter früher oft gerufen, wenn sich Wanja irgendwo gestoßen hatte, und Jo hatte ihrer Mutter dann immer einen ärgerlichen Blick zugeworfen. »Red dem Kind nicht so einen Blödsinn ein. Als ob die Möbel was dafür könnten, so was Idiotisches.«
    Wanja grinste bei der Erinnerung. »Böser Sekretär«, sagte sie im Tonfall ihrer

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