Die geheime Reise
Großmutter und strich mit dem Finger über das helle Holz.
Bis vor ein paar Jahren hatte der Tisch im Schlafzimmer ihrer Mutter gestanden, war dann aber gegen einen größeren Schreibtisch ausgetauscht worden. Wanja klappte die Schreibtischlade auf und musterte die kleinen Fächer und Schubladen, die sich dahinter verbargen. Eigentlich würde der Sekretär in ihrem Zimmer viel schöner aussehen als der weiße Schreibtisch, den sie zu ihrem zehnten Geburtstag bekommen hatte. Wieder verzog sich Wanjas Mund zu einem Grinsen. In der mittleren Schublade lagen Figuren aus Salzteig. Wie alt sie wohl gewesen war, als sie die gebastelt hatte. Fünf? Sechs? Sogar ein kleines Schwein war dabei. Wanja beschloss es mit nach unten zu nehmen. Ob Jo auch ihre Kinderzeichnungen aufbewahrt hatte? Wanja steckte das Salzteigschwein in die Seitentasche des Umhangs und öffnete eine der Schubladen. Alte Münzen kamen ihr entgegen. Die zweite Schublade war leer, bis auf einen kleinen Schlüssel. Wanja nahm ihn heraus, drehte ihn in der Hand und betrachtete die Schublade in der Mitte des Sekretärs. Sie war die größte von allen und hatte als einzige ein Schloss.
Der Schlüssel passte, aber die Schublade klemmte und Wanja musste ein paar Mal heftig ziehen, bis sie nachgab. Eine alte Keksdose kam zum Vorschein, sie war aus abgeblättertem Metall, und als Wanja sie öffnete, schlug ihr Puls plötzlich schneller. Ein Stapel Briefe lag in der Dose, verschnürt mit einer braunen Kordel. Sieben Briefe, alle an Jo adressiert. Wanjas Herz überschlug sich fast, als hätte ihr jemand zugeflüstert, wessen Post sie da, einen Tag nach ihrem dreizehnten Geburtstag, in der Hand hielt.
J. B. stand auf dem Absender. J. B. Sonst nichts. Wanjas Hände zitterten so stark, dass sie sich hinsetzen und Luft holen musste. Minuten vergingen, bevor sie im Stande war, den ersten Brief aus dem Umschlag herauszuholen und aufzuklappen.
Er war datiert auf den 4. 8. 1990, das Jahr vor ihrer Geburt, und begann mit den Worten »Meine geliebte Johannita …« Wanja versuchte vergeblich, ihr Herzrasen wegzuatmen. Ihre Augen flogen über die Seite, über die kleine, leicht geschwungene Handschrift, deren Buchstaben vor Wanjas Augen zu tanzen begannen, als wären sie lebendige Wesen.
Als ich ins Bett ging, lag dein Lachen noch auf meinem Kopfkissen und hat sich über Nacht in meinen Haaren verkrochen, die ich jetzt nicht mehr waschen kann, das wirst du doch wohl einsehen müssen. Wanja schnappte nach Luft. Ihr Blick ließ sich nicht steuern, sauste weiter, blieb wieder stehen an einer Stelle weiter unten … und die Zeit ohne dich ist eine störrische Eselin, die bockt und einfach nicht vorangehen will. Was hast du mit mir gemacht, Johannita, du zärtliches Ungeheuer … Wanjas Zähne gruben sich in ihre Unterlippe, ihre Augen flogen weiter, nach unten zur Unterschrift, zum Namen … der kein Name war. Denn die Worte, mit denen der Brief unterschrieben war, lauteten: Dein dich viel zu sehr liebender Schneehase.
Schneehase? Wieder rang Wanja nach Luft. Wieso Schneehase? Wütend war sie jetzt, rasend wütend, als stritten sich zwei Wanjas in ihr, von denen die eine hämisch lachte und fratzgesichtig fragte, was macht dich überhaupt so sicher, dass diese Briefe von ihm sind, und von denen die andere schrie, halt die Klappe, du Hexe, sie sind von ihm, von wem sollten sie sonst sein! Dieser Stimme folgend, zerrte Wanja den zweiten Brief aus dem Umschlag. Dein dich auf Händen tragender Plausch. Den dritten Brief. Dein wahnsinnig verliebter Hurzelbär. Den vierten. Dein kussmundiger Schmusemuck. Und als sie ihn sinken ließ, begriff sie. Stöhnte auf. Natürlich. Auch er war von Jos Spitznamen nicht verschont geblieben. Aber war er Er ?
Der fünfte Umschlag war größer als die anderen, dicker, fester. Etwas Hartes war darin. Wanja zog es heraus, die Hände wurden ihr kalt.
Ein gemaltes Bild. Es war ein Porträt, postkartengroß. Es zeigte Jo. Eine Jo, die Wanja noch nie gesehen hatte, die sie aber an die schwangere Jo auf dem Foto im Album ihrer Großmutter erinnerte. Eine ganz junge Jo mit leuchtenden Augen, deren Gesicht ernst und doch ein einziges Lachen war. Das Lachen, das sie vor vielen Jahren auf dem Kopfkissen des Schreibenden vergessen hatte.
Wanja berührte das Gesicht ihrer Mutter und war für eine endlose Sekunde darauf gefasst, das Rauschen zu hören, das Rauschen, das ertönte, wenn sie ihr Bild in der Ausstellung Vaterbilder berührte. Aber es kam kein
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