Die geheime Reise
kalten Finger unter die Jackenärmel und zog die Schultern hoch. »Wenn ich nur wüsste, wie ich ihn finden kann. Im Internet war nichts, in den Telefonbüchern, die ich gewälzt habe, stand kein Jolan Berger und zu den J. Bergers, bei denen ich angerufen habe, gehörte er bestimmt nicht. Außerdem kann er sonst wo wohnen, in tausend Städten, in hundert Ländern. Sein Name muss ja nicht mal eingetragen sein. Und …« Wanja schluckte. »Im Grunde kann ich nicht mal sicher sein, ob er noch lebt.«
Mischa schwieg, dann stieß er sie an. »Kuck mal, Alex. Der sieht aber nicht gut aus.«
Alex’ Hände steckten in den Hosentaschen, sein Kopf war eingezogen und in seinen grünen Augen blitzte heute nicht Freude, sondern Wut.
»Was ist denn mit dir passiert?« Wanja war aufgestanden und Alex musterte sie so feindlich, als sei sie die Ursache seines Übels.
»Meine verkackte Alte!«, presste er hervor. »Sie wollte mich nicht gehen lassen, wegen dem Scheißgeigenunterricht. Wegen diesem Stück, das ich auf dem Empfang meines Vaters spielen soll.« Alex verzog angewidert das Gesicht, »manchmal habe ich das Gefühl, die wollen mich dressieren wie einen dämlichen Pudel, nur damit sie mich vorführen können, vor ihren aufgeblasenen Gästen. Mein lieber Alexander! « Er äffte die schrille Stimme der Frau nach, an die sich Wanja noch gut erinnerte, » Du weißt ganz genau, was dein Vater von dir erwartet. – Dein Vater!« Jetzt klang es, als spuckte er die beiden Worte aus, »dein Vater dies, dein Vater das. Ständig geht es so, den ganzen verdammten Tag, jeden verdammten Tag. Es interessiert mich einen Scheißdreck, was der Alte von mir erwartet. Ich bekomme ihn ja doch nie zu Gesicht, der weiß doch noch nicht mal, wer ich bin. Das letzte Mal, dass ich eine Stunde am Stück mit ihm verbracht habe, war, als die Reporter bei uns aufgetaucht sind. Vater und Sohn, am gemeinsamen Abendbrottisch. Sitz gerade, Alexander. Leg deine Hand auf meinen Arm, Alexander. Hör auf zu zappeln und lächele mich an, Alexander. « Jetzt spuckte Alex wirklich auf den Boden. »Der Politiker, der sich um das Wohl der Kinder sorgt. Der Politiker, der Zeit mit seiner Familie verbringt. Dass ich nicht lache!« Wütend strich sich Alex das vom Wind zerzauste Haar aus dem Gesicht. »Familie. Der Typ hat doch nicht den Hauch einer Ahnung, was das ist.«
Mischa war jetzt ebenfalls aufgestanden, Mitgefühl spiegelte sich in seinen Augen. »Und wie bist du dann hergekommen, wenn du nicht gehen durftest?«
»Wie wohl.« Alex kickte gegen eine leere Bierdose, die scheppernd die Stufen hinunterrollte. »Abgehauen bin ich, einfach zur Tür raus. Aber so hirnverbrannt zu sagen, wo ich hingehe, bin ich bestimmt nicht noch mal. Es hat mir gereicht, dass meine Alte einmal hinter mir hergekommen ist. Soll sie doch denken, ich bin zur Hölle gefahren!«
Alex zog die Nase hoch und machte ein Gesicht, als sei ihm sein Ausbruch plötzlich unangenehm. »Also, was ist? Wollen wir hoch, oder was?«
Wanja nickte. Natalie bog auf ihrem Skateboard um die Ecke, die anderen Jugendlichen waren schon an ihnen vorbei zum Eingang gelaufen. In der Mitte der Eingangshalle stand ein neues Kunstwerk. Es war ein riesiger Engel aus hellem Sandstein, in der einen Hand hielt er eine Trompete, die andere Hand zeigte zum imaginären Himmel. Das Lächeln auf seinen Lippen war traurig, als hüte er ein dunkles Geheimnis, aber er sah wunderschön aus.
»Hoffentlich bleibt er eine Weile und wird nicht wieder durch Badewannen oder Hüpfkästen ersetzt, was?«, flüsterte Wanja Natalie zu, die neben ihr stand und den Engel unverwandt ansah.
Natalie nickte kurz und wandte sich ab. Die Tränen, die in ihren Augen schimmerten, hatte Wanja erst nach ihren Worten bemerkt. Erschrocken legte sie Natalie den Arm um die Schultern. »Alles okay?«
»Mädels, wollt ihr hier Wurzeln schlagen?« Alex winkte ihnen von der Kasse zu. Er und Mischa hatten schon bezahlt und Natalie fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase. »Alles klar, komm, lass uns gehen.«
Im großen Saal hinter dem mittlerweile vertrauten dunklen Gang wurden sie von der alten Frau begrüßt. »Es ist so weit, ihr Lieben. Ich weiß, ihr habt lange gewartet. Aber jetzt gehören die Bilder wieder euch. Bis der Gong ertönt. Was ich euch zu Beginn der Ausstellung gesagt habe, dürft ihr nie vergessen. Und jetzt …« Die Frau klatschte in die Hände, »… gehören die Vaterbilder euch.«
Das Mädchen mit den grünen Haaren,
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