Die geheime Reise
Rauschen und Wanjas Finger sank nach unten zu der Signatur des Bildes, den großen, schräg nach rechts abfallenden Buchstaben. Jolan Berger, 1990.
In Jolan steckt Jo, dachte Wanja, und zum Glück verwischten die Ölfarben nicht, als die salzigen Tropfen darauf fielen. Von unten rief jemand, wie aus einer anderen Welt, rief und rief, bis Wanja aufschreckte und die Briefe hastig unter ihrem Vampirumhang verbarg.
»Ich bin hier, Jo, warte, ich komme, ich komme doch schon!«
»Verschone mich, Drakulina«, lachte Jo, die mit Schröder auf dem Arm an der Speichertür stand. »Was hast du denn da oben getrieben? Oma ist am Telefon, sie hat uns gestern nicht erreicht. Mach schon, das Ferngespräch kostet!«
Die Zeit bis zum Abend kroch. Nein, sie bockte, dachte Wanja, wie eine störrische Eselin, die nicht vorangehen wollte.
Wanja traute sich nicht vor die Haustür, sie wollte nicht ans Tageslicht mit den Briefen. Sie traute sich nicht zurück auf den Dachboden, sie traute sich nicht sich damit in ihr Zimmer einzuschließen – aber nicht abzuschließen traute sie sich auch nicht.
Erst als es dunkel war und Jo nach dem Spätfilm in ihrem Schlafzimmer verschwand, setzte Wanja Schröder vor die Tür, schloss sie dann doch ab und holte den verschnürten Stapel unter ihrer Matratze hervor.
Mit zitternden Fingern öffnete sie den sechsten Brief. Er war datiert auf den 3. März 1991 und Wanja las ihn ganz.
Meine geliebte Johannita,
ich habe es dir gesagt, aber ich glaube, du hast mir
nicht geglaubt, vielleicht habe ich mir selbst nicht
geglaubt in dem Moment. Aber hier sitze ich und sage es
noch einmal, allein bei mir, während du bei dir zu zweit
bist, was bedeutet, dass wir zusammen zu dritt sind. ICH FREUE MICH, JOHANNITA. Ich freue mich auf
unser Kind, das jetzt als winzige Kaulquappe im schönsten aller Meere schwimmt – in deinem Bauch, den ich mit
Küssen zudecken möchte, damit er warm bleibt. Aber ich brauche Zeit, Johannita, und ich brauche,
dass du mich nimmst, wie ich bin. Ich werde da sein, ich
werde dein Mann und der Vater unseres Kindes sein.
Aber ich werde es auf meine Weise sein und ich lasse
mich nicht zu Dingen zwingen, die mir nicht entsprechen.
Auch nicht von dir, die ich liebe, und keinesfalls von deiner Mutter, die mich ansieht aus ihren starren, traurigen
Augen, als ob sie mich mit ihren Blicken töten wollte,
wenn ich nicht tue, was sich für sie gehört. Und ich bin
auch nicht derjenige, der den Verlust ersetzt, den sie als
Kind erlitten hat.
Wenn du an meine Gefühle glaubst, gehört dir alles,
Johannita, und wenn ich bei dir bin, bin ich bei dir, ganz
und gar, wie immer und für immer.
Jolan.
Der siebte, der letzte Brief, trug als Datum den 30. November 1991.
Zu dieser Zeit war Wanja etwas über zwei Monate alt.
Es tut mir Leid, Johanna. Jolan.
Das war alles.
Es war 3:48 Uhr und Wanja gab Schröders Maunzen vor der Tür nicht nach.
Schlafen konnte sie nicht. Selbst das Schließen ihrer Augen war eine Qual. Denn jedes Mal, wenn sie versuchte sich ein Bild von Jolan Berger zu machen, schoben sich zwei andere Bilder davor. Taros Lächeln. Und der grässliche Rücken des zuckenden Vogels.
D ER R AHMEN FÜR DIE V ORSTELLUNG
E s war ein Sonntag, das kleine Schwein aus Salzteig stand mit abgebrochenem Ringelschwanz auf dem Hi-FiTurm, die Briefe lagen fest in Zeitungspapier eingewickelt unter der Matratze und Jo lag lesend auf dem Sofa im Wohnzimmer.
Wanja ging aus dem Haus, um sich mit Mischa vor dem Museum zu treffen. Die Einladung für den heutigen Besuchstag hatte vor drei Tagen im Bus an der Scheibe gehangen, neben einer Werbung für die BILD AM SONNTAG.
Wanja schlug den Kragen ihres Parkas hoch, der Wind pfiff ihr um die Ohren, als wolle er das letzte bisschen Sommer aus der Stadt jagen. Aber die Frage, die sich in Wanja festgebissen hatte, konnte auch sein Pfeifen nicht übertönen. Was war damals geschehen?
Sie kam eine halbe Stunde zu früh, aber Mischa saß schon auf der Treppe vor dem Museum und wartete auf sie.
»Warum sprichst du deine Mutter nicht einfach auf die Briefe an?«, fragte er, als sie sich neben ihn setzte.
Wanja spuckte ihre Haarsträhne aus und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Meinst du, ich hab Lust, dass noch mehr Gläser durch die Gegend fliegen? Du kennst meine Mutter nicht, da könnte ich genauso gut einem Stier ein rotes Tuch vor die Nase halten.«
Sie schob ihre
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