Die geheime Reise
schüttelte es sie innerlich. »Wo liegt Altenkirchen denn überhaupt?«
Britta blieb vor einer Boutique stehen und betrachtete den pinkfarbenen Lackrucksack, der im Schaufenster ausgestellt war. Er stand auf einem grünen Kunstrasen, rote Plastiktulpen steckten in ihm wie in einer Vase und das Preisschild, das vorne an der Schnalle hing, zeigte eine dreistellige Summe.
»Keine Ahnung.« Britta wandte sich mit einem tiefen Seufzer vom Fenster ab. »Weit weg jedenfalls und es scheint ein ziemliches Kaff zu sein. Ich weiß auch gar nicht, wie ihr Vater da weiter arbeiten will.«
»Na, einen Bahnhof wird es da doch wohl geben, oder?« Wanja kickte eine Glasscherbe vor sich her und zog sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf.
»Na ja. Aber jedenfalls wird es bestimmt kein Spaß, mit einer kranken Oma zusammenzuwohnen.«
Tinas Großmutter, die laut Tina schon sehr alt war, hatte einen Schlaganfall erlitten und Wanja wusste, was das bedeutete.
»Trotzdem …« Wanja kickte die Glasscherbe in den Gulli, »Ich finde es gut, dass ihre Familie sie nicht einfach in ein Heim steckt.«
»Klar, finde ich ja auch. Aber umziehen möchte ich dafür nicht, auch wenn meine Oma sieben Häuser hätte. Hoffentlich kann Tina wenigstens die Klassenreise noch mitmachen, was?«
Die Klassenreise. Die hatte Wanja ganz vergessen. Das Ziel war noch nicht klar, aber der Termin stand fest – und leider auch der Lehrer, der Frau Gordon begleiten würde. Bei dem Gedanken, ihrem Mathelehrer womöglich morgens im Schlafanzug auf dem Gang zum Bad zu begegnen, wurde Wanja richtig übel.
»Zumindest wird Tina von Schmierkopf erlöst«, knurrte sie und drehte sich zu Britta um, die jetzt an einem Filmplakat stehen geblieben war.
»Sag mal, wollen wir heute Nachmittag ins Kino gehen?« Britta strich ihre hellen Haare aus dem Gesicht und sah Wanja erwartungsvoll an. »Paps hat mir gestern Geld geschenkt, ich lad dich ein. Wir haben schon so lange nichts mehr zusammen gemacht.«
»Tja, ich …« Wanja wich Brittas Blick aus. Sie hatte sich vorgenommen heute Nachmittag Mischa zu besuchen. Außer in den Pausen hatten sie sich seit ihrem letzten Besuchstag nicht gesehen und die letzten zwei Tage war Mischa auch in der Schule nicht aufgetaucht. »… Also, ich bin heute Nachmittag verabredet.«
Britta zog die Augenbrauen hoch. »Doch nicht etwa mit dem Penner, oder? Schlimm genug, dass du in der Schule jetzt dauernd mit ihm rumstehst. Ich versteh dich wirklich nicht, wie kann man sich mit so was abgeben?« Brittas Stimme war eine Tonlage höher gerutscht.
Wanja zog scharf die Luft ein und verkniff sich die bissige Antwort, die ihr auf den Lippen lag. Vor das Gefühl von Nähe, das nach langer Zeit zwischen ihr und Britta wieder da gewesen war, schob sich erneut die Wand. Schweigend legten die Mädchen den Rest des Weges zurück und Wanja war froh, als Alina ihnen die Tür öffnete und die unangenehme Spannung unterbrach.
Allerdings nur für einen Augenblick. Als die drei in die Küche traten, merkte Wanja sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Herr Sander saß bereits am Tisch, er nickte ihnen abwesend zu, ohne wie gewohnt nach der Schule zu fragen, und als Frau Sander die Teller auf den Tisch stellte, war ihr Gesicht so düster, dass sich niemand traute, mehr als Danke zu sagen.
Eine Weile lang war nur das Klacken der Messer und Gabeln zu hören – und ab und zu ein Räuspern von Britta, die ihrem Vater immer wieder einen verstörten Blick zuwarf. Doch der schien ganz mit den Filetspitzen und den Prinzessbohnen auf seinem Teller beschäftigt zu sein. Wanja fröstelte, als stünde ein Fenster offen. Alinas Augen huschten unruhig in der Küche umher und Wanja bemerkte, wie sie unter dem Tisch heftig mit den Beinen zuckte.
Als Alina eine mit Soße überzogene Prinzessbohne von der Gabel rutschte und auf die weiße Tischdecke fiel, wurde die Stille durch einen lauten Knall unterbrochen. Herr Sander hatte mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. »Kannst du nicht endlich einmal ordentlich essen? Wir sind doch hier nicht im Schweinestall!«
Alinas Mundwinkel sackten nach unten, ihre Unterlippe begann zu beben und sie schaute Hilfe suchend zu ihrer Mutter.
»Du brauchst gar nicht so zu kucken«, wetterte Herr Sander weiter. »Glaubst du etwa, ich merke nicht, wie du die ganze Zeit unter dem Tisch herumhampelst? Herrgott, wie ich diese Kasperei beim Essen hasse!«
»Nun lass sie doch endlich mal in Ruhe«, zischte Frau Sander. »Meine
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