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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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hinein, aber jetzt riss sie die Augen weit auf. Was jetzt erschien, war nicht mehr ihr Spiegelbild, sondern ein verschwommenes Gesicht. Wieder war es das Gesicht eines Mannes, aber je mehr sie sich anstrengte es zu erkennen, desto mehr verschwamm es, als sei es das Spiegelbild eines Sees, dessen Oberfläche sich kräuselte, bis nichts mehr zu sehen war.
    Der Alte, zu dem sich Wanja umdrehte, deutete mit dem Kopf zum Tisch, auf dem eine dampfende Tasse stand. »Der Tee wartet schon auf dich.«
    Als sich Wanja auf dem gepolsterten Stuhl niederließ, zitterten ihr die Knie und sie wusste plötzlich nicht mehr, ob es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Vor allen Dingen wusste sie nicht, was sie sagen, wo sie anfangen sollte. Jedenfalls nicht bei dem, was gerade geschehen war und ihr wie ein Stein auf der Seele lag, zu schwer, um ausgesprochen zu werden. Sie legte ihre Hände um die Tasse und presste die Lippen aufeinander.
    An der Wand neben dem Tisch hing eine Sammlung von Bildern. Es waren Porträts, postkartengroß und dicht an dicht zu vier Reihen angeordnet. Die oberen drei Reihen bestanden aus jeweils vier Bildern, wogegen die unterste Reihe nur drei Bilder hatte und dadurch den Eindruck eines unvollständigen Quadrates entstehen ließ. War das letzte Bild abgenommen oder noch nicht aufgehängt worden?, fragte sich Wanja. Aber dann fiel ihr noch etwas anderes auf. Es waren alles Porträts von Jugendlichen. Fünfzehn Gesichter schauten sie an, alle mehr oder weniger in ihrem Alter. Nein, sechzehn waren es. Weil das letzte Bild zwei Kinder zeigte.

    »Wer sind die?«, hörte Wanja sich schließlich mit leiser Stimme fragen.
    Der Alte, der sich zu ihr an den Tisch gesetzt hatte, zog ein silbernes Döschen aus seiner Tasche. Es war an einer langen, dünnen Kette befestigt.
    »Besucher.«
    Wanja studierte die Gesichter und plötzlich kam es ihr so vor, als hätten die Bilder eine bestimmte Ordnung, als seien die Porträts eine Reise durch die Zeit, als käme jedes dieser Kinder aus einem anderen Jahrhundert, chronologisch geordnet, bis zum Bild mit den beiden Gesichtern. Ein Mädchen und ein Junge. Das Mädchen, das Wanja seltsam vertraut vorkam, hatte ein ernstes Gesicht mit einer hohen Stirn und meerblauen Augen. Ihren Arm hatte sie fest, beinahe schützend um den Jungen gelegt, der ihr bis zur Schulter ging. Aus seinem runden, stupsnasigen Gesicht lachten Wanja freche grüne Augen entgegen.
    »Besucher?«, fragte sie leise. »Du meinst, die waren alle hier?«
    Der Alte nickte.
    »Und wollten sie alle zu Taro?« Plötzlich durchfuhr Wanja ein Gefühl von Eifersucht.
    Der Alte lachte, ein meckerndes, blechernes Lachen. »Sie wollten alle nach Imago«, erwiderte er. »Taro ist nur für euch da.«
    Klack. Das Döschen schnappte auf. Wanja beobachtete, wie der Alte einen kleinen Berg aus braunem Pulver auf seinen Handrücken schüttete, an die Nase legte und mit einem tiefen Atemzug aufsog.
    »Und Taro?«, brachte sie schließlich hervor. »War Taro damals hier, als die Besucher kamen?«
    Amon schüttelte den Kopf. »Niemand von diesen Artisten war hier. Es waren jedes Mal andere Zirkusleute.«
    »Aber du warst da.« Mit gerunzelter Stirn sah Wanja in die kristallenen Augen. »Du warst immer da, nicht wahr?«
    »Ja.« Amon ließ das Döschen wieder zuschnappen. »Ich war immer da.«
    Wanja nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Der Tee brannte ihr auf der Zunge, aber im Hals blieb ein angenehmes Gefühl von Wärme zurück. »Und du hast Taro gesagt, dass wir kommen? Ihm und den anderen Artisten?« Der Alte nickte.
    »Aber woher … von wem wusstest du das?«
    Ein Schmunzeln erschien auf dem faltigen Gesicht, anscheinend fand der Alte an Wanjas Fragen Gefallen. Sein Finger deutete auf einen Haufen alter Zeitungen, die sich in einem Korb in der Ecke stapelten. »Euer Besuch wurde angekündigt.«
    Wanja schluckte. In der Zeitung? Dort hatte auch sie von der Ausstellung erfahren, damals, als sie eröffnet wurde. Meine Güte, Monate waren seither vergangen. Aber – wieder sah sie zu den Bildern auf – was war mit den anderen Besuchern? Wie hatten sie von der Ausstellung erfahren? Gab es damals schon Zeitungen? Radios und Pizzawerbung jedenfalls bestimmt nicht.
    »Sie haben auf andere Weise davon erfahren.« Der Alte antwortete, als hätte sie ihre Frage laut gestellt. Wanja angelte nach ihrer Haarsträhne und bemerkte aufatmend, dass ihr Herzklopfen nachgelassen hatte. »Hast du den Artisten auch erzählt, dass die

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