Die geheime Reise
wenn sie zurück ins Museum kamen, waren auf der Wanduhr nur wenige Minuten vergangen. Wie war das möglich?
Hilfe suchend, drehte Wanja sich zu Mischa. Aber der war ganz auf das konzentriert, was O ihm erzählte, und Taro würde ihr wahrscheinlich wieder keine Antwort geben, die sie zufrieden stellte. Wanja schüttelte die Frage ab. Was die Abstände zwischen den Besuchstagen betraf, hatte Taro zumindest Recht. Bis jetzt waren die Wartezeiten relativ regelmäßig gewesen, und wenn ihre Wochen hier nicht einmal Tage waren, machten selbst Verzögerungen nicht viel aus. Aber was …? Plötzlich tauchte ein Gedanke auf, der Wanja noch viel mehr beunruhigte, und diesmal konnte sie sich ihre Frage nicht verkneifen. »Aber was, wenn wir zur Aufführung nicht da sind? Woher willst du überhaupt wissen, dass wir zu diesem Zeitpunkt kommen?«
Taro lächelte, aber nur mit dem Mund. In seinen Augen flimmerte Traurigkeit. »Ich weiß es«, sagte er leise. »Weil mir gesagt wurde, dass die Abschlussvorstellung auf euren letzten Besuchstag fällt.«
Er drehte sich zu den anderen um und klatschte in die Hände. »Seid ihr bereit zum Proben?« Mischa nickte und stieg hinter Noaeh und O die Treppe zum Balkon hoch. Taro folgte ihnen. Wanja stand noch einen Moment lang reglos da. Dann löste sie sich und ging zum Manegenausgang.
»Ich geh spazieren«, sagte sie und Taro nickte ihr vom Balkon aus zu, als wüsste er, welches Ziel sich Wanja soeben gesetzt hatte.
A MON
D ie Vorhänge des Alten waren zugezogen, und als Wanja an den heruntergekommenen Wohnwagen herantrat, hielt sie den Atem an. Ängstlich lugte sie um die Ecke, dorthin, wo der Wald begann. Ihre erste Begegnung mit dem Alten, der knorrige Stock, der Vogel, sein zuckender Rücken vor Taros Gesicht, das Verschwinden von Sandesh – all diese Bilder waren noch so lebendig. Vielleicht wusste Taro ja wirklich nicht, was dieser Vogel von ihm wollte. Aber vielleicht wusste es Amon. Zaghaft klopfte Wanja an die Tür und machte gleich darauf einen ängstlichen Schritt nach hinten. Die Vorhänge öffneten sich um einen Spalt. Der Umriss eines Gesichtes kam zum Vorschein und es dauerte noch einen endlosen Augenblick, bis die Tür des Wohnwagens aufging. »Da bist du ja!« Die sanfte Stimme versetzte Wanja auch heute wieder in Erstaunen. Der Alte, der jetzt aus dem Halbdunkel hervortrat, sah noch krummer aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sein langer, schäbiger Mantel schleifte über den Boden, die Farbe, Dunkelbraun oder Grau, war schwer auszumachen.
»Komm nur herein, mein Kind.« Seine Augen funkelten freundlich. Trotzdem schlug Wanja das Herz bis zum Hals. Nur zögernd trat sie näher und sah sich voller Scheu im Wagen um.
Vor dem Fenster, durch dessen aufgezogene Vorhänge jetzt spärlich das Tageslicht fiel, stand ein kleiner Holztisch mit zwei Stühlen. Von dem einen war die Lehne abgebrochen, der andere war mit rotem, abgewetztem Samt bezogen. In der Spüle neben dem Tisch türmte sich Geschirr, auf dem kleinen Gasherd stand ein Kessel, auf dem Brett darüber drängten sich Tassen, Gläser, verschiedene Gewürze und kleine Fläschchen mit seltsamen Flüssigkeiten dicht aneinander. Auf der anderen Seite des Wagens stand neben einer schmalen Pritsche ein Regal aus dunklem Holz. Es war gefüllt mit Büchern, auf denen daumendick der Staub lag. Nur im mittleren Fach, eingeklemmt zwischen zwei besonders breiten Bänden, lag eine glänzende Kugel in der Größe eines Basketballs.
Wanja versuchte ihre Augen abzuwenden, aber es ging nicht. Die Kugel zog sie magisch an. Trotz ihres Herzklopfens – sie stand bestimmt schon eine Minute im Wohnwagen des Alten, ohne dass er ein weiteres Wort gesagt hatte – ging sie auf die Kugel zu. Sie sah hinein – und schaute in ihr eigenes Gesicht, in dem das Größte ihre Augen waren. Riesig erschienen sie ihr. Aber was war das in ihrem linken Auge? Wanja beugte sich noch dichter über die Kugel. In ihrer linken Pupille spiegelte sich … ein Trapez. Jemand saß darauf, eine winzige Person, aber nach genauerem Hinsehen erkannte Wanja, dass es ein Mann war. Er schaukelte ihr entgegen, schwang zurück, und als er wiederkam, zuckte Wanja nach hinten. Der Mann war verschwunden und an seiner Statt saß jetzt der Vogel auf der Schaukel, schwärzer als das Schwarz ihrer Pupille. Er hob die Flügel und flog – flog hinaus und verschwand im Inneren der Kugel. Wie im Reflex blinzelte Wanja. Schaudernd blickte sie noch einmal in die Kugel
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