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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Abschiedsvorstellung bei unserem letzten Besuch sein wird? Und dass wir jedes Mal zurückmüssen, wenn der Gong kommt?«
    Wieder nickte Amon. »Ja, auch das wissen sie von mir.«
    »Und woher weißt du das ?«
    »Es steht in den Gesetzen.« Der Alte steckte das Döschen zurück in seine Tasche und zog ein Taschentuch hervor, in das er sich schnäuzte.
    Gesetze? Welche Gesetze? In Wanjas Kopf kreisten die Fragen jetzt so schnell, dass ihr fast schwindelig wurde. Die Besucher, der Gong, die verschiedenen Zeiten, Taro, der Vogel, die Kugel, die Kugel, die Kugel … Hier hakten ihre Gedanken, wie eine Schallplatte, die einen Kratzer hatte.
    Der Alte drehte seinen Stuhl und griff nach dem Stock, der an seiner Seite des Tisches lehnte. Mit beiden Händen stützte er sich darauf und beugte sich zu Wanja vor. Wieder war es, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
    »Die Kugel zeigt, was da ist. Sie spiegelt die wichtigste Frage, den sehnlichsten Wunsch oder die größte Angst ihres Betrachters, je nachdem, was den Menschen, der hineinschaut, gerade im Innersten beschäftigt. Manchmal zeigt sie auch das Wesen, mit dem wir uns am tiefsten verbunden fühlen.« Der Alte räusperte sich. »Sie hat dich angezogen, die Kugel, nicht wahr?«
    Wanja nickte, langsam, dann heftiger.
    Amon neigte den Kopf, ganz leicht, fast wie ein Tier, das lauert, weil es ein Geräusch gehört hat. »Wie geht es deinem Vater, mein Kind?«
    Wanja fuhr zusammen, als hätten sie die Worte körperlich getroffen. Wie bitte?! Was hatte der Alte da gefragt?
    »Meinem Vater?« Sie stammelte. »Wieso meinem Vater? Ich kenne meinen Vater nicht.«
    »Dann kannst du natürlich auch nicht wissen, wie es ihm geht.«
    »Aber …«, Wanja schnappte nach Luft. Es war nicht zum Aushalten. Warum warf jede Antwort, die sie erhielt, nur wieder neue Fragen in ihr auf?
    »Wie kommst du jetzt auf meinen Vater?«, platzte es aus ihr heraus und im selben Moment wurde ihr bewusst, dass sie den Alten duzte. In der wirklichen Welt würde sie das bei einem Erwachsenen nie tun. Aber dies hier war nicht die wirkliche Welt, oder doch? »In der Kugel habe ich mich selbst gesehen und den Mann auf dem Trapez, Taro, er war in meinem Auge und dann kam plötzlich dieser … dieser widerliche Vogel und … ach, verflucht, woher zum Teufel kommt der Vogel? Was will er? Warum wirft er diesen Schatten? Warum frisst er alle Farben – und was will er von Taro?« Ihre Stimme, die laut geworden war, überschlug sich fast und das Gesicht des Alten erschien ihr plötzlich liebevoll.
    »Mädchen. Ich kann dir die Antworten auf diese Fragen nicht geben. Sie liegen alle in dir. In dir und Mischa. In euch selbst müsst ihr danach suchen. Nur deshalb seid ihr hier.«
    »In uns?« Wanja schob ihren Tee zur Seite, senkte den Kopf und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Das alles war mehr, als sie fassen konnte. Warum konnte es nicht einfach nur schön sein, so wie es bei ihrem ersten Besuch gewesen war? Warum musste dieses Ungeheuer mit einem Mal alles überschatten und warum sollte sie die Antwort darauf jetzt auch noch in sich selber suchen, in ihrem Kopf, der so voller Fragen war, dass nichts mehr hineinpasste?
    Der Alte legte seinen Finger unter ihr Kinn und hob es sanft, ganz sanft in die Höhe. Wanja ließ es geschehen. Als ihre Augen in die Augen des Alten schauten, fiel ihr plötzlich wieder der Name der Ausstellung ein. Vaterbilder. Und obwohl sie noch immer nichts verstand, fühlte Wanja, wie sie ruhiger wurde, spürte aber auch die Tränen, die ihr an der Nase herunterliefen.
    Lange saßen sie so da. Dann klopfte es an die Tür. »Es ist offen«, rief der Alte. »Kommt herein.« Mischa und Taro standen im Raum, Wanja wischte sich mit dem Handrücken über Nase und Augen. »Ihr müsst gehen«, sagte der Alte. In diesem Moment ertönte der Gong.
B EI M ISCHA
    E s war Oktober und es schien, als hätte der Winter vergessen, dass vor ihm eigentlich der Herbst an der Reihe war, so lausig kalt tobte der Wind durch die Straßen. Es war ein Wind, der nach Schnee roch.
    »Tina tut mir echt Leid.«
    Britta und Wanja waren auf dem Heimweg. Sie bogen in die kopfsteingepflasterte Straße mit den teuren Geschäften, den feinen Restaurants und den herrschaftlichen Jugendstilvillen ein. Brittas Haus war eins der schönsten, aber ihr Haus im Wald hätte Wanja nie dagegen eingetauscht. »Mir tut sie auch Leid«, sagte sie mitfühlend. »Wenn ich mir vorstelle, ich müsste umziehen.« Allein bei dem Gedanken

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