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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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dachte Wanja. Sie setzte sich im Schneidersitz auf das Kissen und beugte sich zu Mischa vor. »Wo warst du? Krank?«
    Mischa schob die Waschmittelbüchse weg. »Hab mich nicht gut gefühlt.«
    Ich würde mich auch nicht gut fühlen, dachte Wanja, wenn ich so leben müsste. Keinen einzigen Tag würde ich mich gut fühlen. Bitte Mischa, sag was, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, ob du mich hier überhaupt haben willst, ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll.
    Mischa stand auf und griff nach dem Bild, das zu Boden gefallen war, ein DIN-A3-großer Bogen. Als er ihn hochhob und zurück auf den Tisch legen wollte, sah Wanja, dass es ein Porträt war. Ein Porträt von …
    »Hey, was war das? Zeig mal, von wem ist das?« Sie war aufgesprungen und hatte sich hinter Mischa gestellt. Dunkle Augen blitzten sie an. Wanja schluckte. Das war Taro. Das Porträt zeigte Taro – und wie es ihn zeigte. So lebensecht, dass Wanja für einen Moment lang glaubte hineintauchen zu können wie in Taros Bild in der Ausstellung.
    »Mischa, das … woher hast du das?« Fassungslos starrte sie in Taros Gesicht. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, sein schwarzes Haar zusammengebunden. Er lächelte, ganz leicht und das Blitzen in seinen Augen war das Blitzen, das Wanja auf den ersten Blick gefesselt hatte, damals, bei ihrem ersten Besuch im alten Saal. Sie schüttelte den Kopf. »Das hast du doch nicht gemalt oder?«, fragte sie ungläubig.
    Ein Achselzucken war die Antwort.
    »Mischa, das ist … das ist unglaublich gut. Mensch, du könntest berühmt werden für so was.«
    Mischa wollte das Bild umdrehen. »Red keinen Quatsch.«
    »Das ist kein Quatsch!« Wanja nahm ihm das Bild aus der Hand. Ihre Stimme klang beschwörend. »Im Ernst, Mischa! Flora, die Freundin von Jo, die hat mir mal Bilder gezeigt von einer Schülerin, von der sie richtig was hält, eine, die jetzt Kunst studiert und sogar Preise für ihre Bilder gewonnen hat. Ich glaube, die hat sogar ein Stipendium bekommen. Aber deren Bilder waren Krickelkram im Vergleich zu dem hier.«
    Mischa starrte nur stumm auf das Bild, aber Wanja war so in Fahrt, dass sie ihn weiter bestürmte. »Hast du noch mehr? In der Mappe da unten, meine ich? Zeigst du mir was?«
    Mischa musste grinsen. »Du kriegst bestimmt auch mal einen Preis. Das neugierigste Mädchen der Welt.«
    »Haha.« Wanja musste lachen und schubste Mischa an. »Los, zeig schon her.«
    Mischa hob die Mappe auf und trug sie zu dem Kissen, auf dem Wanja gesessen hatte. Er setzte sich neben sie auf den Boden, löste den blauen Faden von der Mappe und klappte sie auf.
    Die drei obersten Bilder zeigten alle Taro. Taro beim Trommeln, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen. Taro mit dem Saxofon. Taro im Profil, das kleine Ziehharmonikainstrument, auf dem er in den Bergen gespielt hatte, in seinen Händen.
    »Wie machst du das, dass die Bilder so echt aussehen? Braucht man nicht immer jemanden, der einem Modell steht, oder zumindest ein Foto?«
    Mischa sah Wanja an. »Das Bild von Taro ist da, sobald ich die Augen schließe.«
    Wanja lächelte. »Ich find’s toll, dass du in der Aufführung mitmachst.«
    »Du machst doch auch mit.«
    »Ja«, Wanja zog die Luft ein. »Ich kann’s noch gar nicht glauben. Aber ich freue mich trotzdem wie verrückt. Halt mal!« Wanja hielt Mischas Arm fest. »Nicht die Mappe zuklappen, ich will sehen, was da noch ist.«
    Mischa blätterte das Bild von Taro weg und Wanja hielt ihre Hand vor den Mund. Mischa hatte sie gemalt.
    Wie bei Amon, in der Kugel, schaute Wanja auch jetzt wieder in ihr eigenes Gesicht. Aber diesmal war es anders. Kein Trapez, kein Vogel. Sie sah nur sich selbst, so wie Mischa sie sah. Ihre Augen rund und groß, der Blick erstaunt, aber auch ein kleines bisschen zweifelnd und vielleicht sogar traurig. Die Nasenflügel waren leicht gebläht und die Haarsträhne, die Wanja so oft im Mund hatte, ragte neben ihrem Kinn aus den dichten braunen Locken heraus, die nasse Spitze zeigte nach oben zu ihren Mundwinkeln, die ein wenig lächelten und ein wenig nicht.
    Bei ihrer Großmutter hing auch ein Porträt von ihr, irgendein Künstler hatte es gemalt, es zeigte die kleine Wanja mit ihrem Teddybären auf dem Schoß und einem unfreiwilligen Lächeln auf den Lippen. Wanja mochte das Bild nicht, weil es nichts mit ihr zu tun hatte. Dieses Bild hatte etwas mit ihr zu tun – so viel, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Es war, als hätte Mischa sie erkannt, wie

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