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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Güte, Eberhard, sie ist acht Jahre alt!« Mit einer wütenden Bewegung pikste sie die Bohne vom Tisch, legte sie auf ihren Tellerrand und versuchte mit der Serviette den Soßenfleck wegzurubbeln, der dadurch nur noch größer wurde.
    Auf Herrn Sanders Gesicht erschien ein kalter, abfälliger Ausdruck. »Wenn du ihr ein besseres Benehmen beigebracht hättest, meine Liebe, dann hätte ich keinen Grund, mich aufzuregen. Und ich für meinen Teil habe mit acht Jahren, dank meiner Mutter, sehr wohl gewusst, wie man sich bei Tisch benimmt.«
    Frau Sander kniff die Lippen zusammen, als müsse sie die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, mühsam zurückhalten. Alina zog den Kopf zwischen die Schultern und sogar Britta rutschte jetzt unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
    »Wir haben heute unsere Mathearbeit zurückbekommen, Paps«, sagte sie mit etwas zu lauter Stimme. »Ich habe eine Eins.«
    Wanja sah erstaunt von ihrem Teller auf. Sie hatten die Mathearbeit doch erst gestern geschrieben, was erzählte Britta da? Dass sie eine Eins haben würde, stand wahrscheinlich außer Frage, aber zurückerhalten würden sie die Arbeit bestimmt erst in der nächsten Woche. Doch Brittas Vater schien die Bemerkung seiner Ältesten nicht einmal gehört zu haben. Sein Teller war noch halb voll, als er die Serviette zusammenlegte und sich von seinem Stuhl erhob. »Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet, ich muss zurück in die Praxis.«
    Britta biss sich auf die Unterlippe und Frau Sander ließ ihre Gabel auf den Teller fallen, so heftig, dass die Soße auf den Tisch spritzte. »Ach ja?! Das ist ja hochinteressant, dass du seit neustem jeden Mittag in die Praxis musst. Ich wünsche dir viel Spaß bei der Arbeit und vergiss doch bitte nicht dir vorher die Zähne zu putzen!«
    Britta starrte ihre Mutter entgeistert an, während Alina jetzt wirklich die Tränen aus den Augen kullerten. »Ihr sollt aufhören, Mama!«, schluchzte sie.
    Herr Sander verließ ohne ein weiteres Wort die Küche und Wanja wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Mit streitenden Eltern hatte sie keine Erfahrung – das war der Vorteil, wenn man mit seiner Mutter alleine lebte –, aber dies hier fühlte sich nicht an wie ein normaler Ehekrach, so viel war auch ihr bewusst.
    »Was ist denn mit deinen Eltern los?«, fragte sie, als sie nach dem Essen in Brittas Zimmer saßen. Wanja hatte ihr Deutschheft aufgeschlagen, aber Britta gab keine Antwort. Sie war voll und ganz damit beschäftigt, sich die Augen zu schminken. »Na, wie seh ich aus?«
    Wanja kratzte sich verlegen hinterm Ohr. Sie wollte Britta nicht verletzen, aber anlügen wollte sie sie auch nicht. Der hellblaue Lidschatten sah furchtbar aus. »Ich weiß nicht«, murmelte Wanja, »findest du nicht, du bist zu jung für so was?«
    Britta schnaubte und warf ihre Haare zurück. »Du hast doch keine Ahnung, du selber läufst ja rum wie ein halber Penner. Aber das passt ja auch zu deinem komischen Mischa. Was habt ihr zwei denn heute Nachmittag vor? Am Hauptbahnhof betteln gehen?«
    »Jetzt reicht’s mir aber!« Wanja knallte ihr Deutschheft zu und griff nach ihrer Sweatshirtjacke, die sie über Brittas Stuhl gelegt hatte. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Eine bissige Bemerkung über Brittas angebliche Eins in der Mathearbeit lag ihr schon auf der Zungenspitze. Aber als sie sah, wie Brittas Lippen zu zittern anfingen, schluckte Wanja ihre Worte runter und schloss die Tür.
    Frau Sander saß mit Alina in der Küche, die beiden spielten Memory und saßen so friedlich beieinander, als wäre nichts geschehen.
    »Na, Wanja?« Als Frau Sander lächelte, sah sie plötzlich traurig aus. »Gehst du schon nach Hause?«
    »Ich bin noch verabredet. Vielen Dank fürs Essen, Frau Sander. Mach’s gut, Alina.«
    Als Wanja die Haustür hinter sich zuschlug, atmete sie aus und holte den Zettel aus ihrer Hosentasche, auf dem sie sich Mischas Adresse notiert hatte. Die Straße lag in einem anderen Stadtteil, den Wanja nicht kannte. Sie hatte sich im Stadtplan eine U-Bahn-Verbindung herausgesucht, weil ihr Fahrrad wieder einmal einen Platten hatte. Es war nicht weit, aber die Straße, in die Wanja eine halbe Stunde später einbog, war so trostlos, dass sie sich wunderte noch in derselben Stadt zu sein.
    Graue Häuser reihten sich aneinander, schmucklos wie Schuhkartons in einer Lagerhalle und genauso farblos kamen Wanja auch die Gesichter der Leute vor, an denen sie vorbeiging. An der Straßenecke zerrte eine alte Frau

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