Die geheime Sammlung
gefunden.«
»Hm … sieht wie die Arbeit dieser Zandra Blair aus. Wo sie auch hinging, hinterließ sie Chaos. Wir haben einige Zeit gebraucht, bis wir herausgefunden hatten, dass sie schuld war. Sie war ganz groß darin, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ich bin froh, dass ich sie zum letzten Mal gesehen habe! Mal sehen … hatten die Sachen noch irgendwelche Etiketten?«
»Ich habe keine gefunden.«
Er begann, die Beinschützer zu sortieren und die verhedderten Bänder zu entwirren. »Ich wünschte, wir könnten etwas Moderneres wie Funketiketten verwenden. Dann würden wir nicht Dinge verlieren, weil sie falsch zurückgelegt werden und jahrelang woanders herumliegen.«
»Wieso nimmt man denn dann keine Funketiketten?«, fragte ich. »Sind sie zu teuer?«
»Nein, wir hätten wahrscheinlich das Budget dafür, aber die Direktion ist sehr konservativ, was Technik angeht. Sie nennen sie ›moderne Magie.‹«
»Was ist daran falsch? Moderne Magie? Das hört sich doch gut an.«
»Finde ich auch. Aber sie bevorzugen die guten, alten Methoden.« Dr.Rust hielt sich ein Paar Ledergamaschen mit einer Hand ans Ohr, als würde er einem Geheimnis lauschen, dann kritzelte er etwas auf ein weißes Etikett und band es an eine Schnalle. Ich achtete genau darauf, ob die Sommersprossen sich bewegten, aber es war zu dunkel, um sie zu erkennen.
Dr.Rust schien einem weiteren Paar Gamaschen zuzuhören, schüttelte sie und hörte wieder hin.
»Dr.Rust, kann ich Sie etwas fr-«, begann ich, aber dann hielt ich inne. Im Grunde kannte ich die Antwort ja bereits.
»Natürlich. Stelle stets Fragen …«
»Was ist das Grimm-Sammelsurium?«
Dr.Rust legte das letzte Kleidungsstück zur Seite, sah mich lange Zeit ernst an und sagte dann: »Stan Mauskopf hat uns nie einen schlechten Pagen geschickt.«
Sollte das etwa eine Antwort sein? »Ich freue mich«, plauderte ich weiter, »dass er so gut von mir denkt. Und ich werde alles tun, um diesem ersten Eindruck gerecht zu werden.«
»Ich bin mir sicher, das wirst du. Ja, ich denke, das wirst du wirklich.« Dr.Rust holte tief Luft. »Das Grimm-Sammelsurium ist eine der Sondersammlungen in Magazin eins, die Besonderheit unter den Sondersammlungen. Der ursprüngliche Bestand kam 1892 in die Bibliothek, als Hinterlassenschaft von Friedhilde Hassenpflug, einer Großnichte von Jakob und Wilhelm Grimm.«
»Ich weiß, wer die sind. Ich habe ja gerade erst eine Arbeit über die Brüder Grimm für Mr.Mauskopf geschrieben.«
»Natürlich. Also weißt du Bescheid über ihre Sammlung von
Kinder- und Hausmärchen
. Aber sie sammelten nicht nur Geschichten, sondern häuften auch eine beachtliche Anzahl von Objekten an.«
»Das ist ja großartig! Ich wusste, dass die Brüder Grimm Sprachhistoriker waren, aber ich wusste nicht, dass sie auch an der Geschichte von … Dingen interessiert waren.«
Dr.Rust nickte. »Ja, man nennt das Kulturanalyse. Man untersucht, wie physische Objekte durch Gesellschaft und Geschichte geprägt wurden. Als akademische Fachrichtung ist sie relativ neu, aber für uns hier im Archiv stand das in gewisser Weise immer schon im Mittelpunkt unserer Aufgabe. Kulturanalyse gab es zur Zeit der Grimms noch nicht, sie waren auf so viele Arten Visionäre. Wir können uns glücklich schätzen, ihre Sammlung bewahren zu dürfen.«
»Was für Gegenstände haben sie gesammelt?«
»Dinge, die in den
Kinder- und Hausmärchen
erwähnt wurden.«
»Was meinen Sie? So etwas wie Aschenputtels Schuhe?«
»So in der Art.«
Verwundert hielt ich inne. Schwang in seiner Stimme etwa eine Spur Sehnsucht mit?
»Aschenputtels Schuhe«, fuhr er fort, »haben wir nicht. Aber um genau so etwas geht es, ja.«
Immerhin behauptete Dr.Rust nicht wirklich, das Repositorium bewahre Aschenputtels Schuhe auf, denn das ginge mir doch etwas zu weit. Ich war erleichtert. »Was
haben
Sie denn dann?«, fragte ich.
»Oh – Spindeln, Stroh, Bohnen und Tränen. Einen gläsernen Sarg. Ein goldenes Ei. Einiges an Dingen. Die Grimms waren ernsthafte und gründliche Sammler. Und natürlich haben wir die Sammlung im Laufe der Jahre durch Objekte, die mit anderen Märchen und Folklore zusammenhängen, erweitert. Besonders stolz bin ich auf unsere französischen Objekte. Wir haben die größte Sammlung außerhalb des Archives Extraordinaires in Paris. Und es gibt auch einige wichtige Stücke im Grimm-Sammelsurium, die mit
Tausendundeiner Nacht
in Verbindung stehen.«
»Das würde ich furchtbar gern
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