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Die geheime Sammlung

Die geheime Sammlung

Titel: Die geheime Sammlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Shulman
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beugte sie sich noch einmal zu mir herüber. »Tausend Dank, Elizabeth, ich schulde dir was«, flüsterte sie, ehe sie Aaron den Gang hinunter folgte.
    Dann war ich mit den mysteriösen Schuhen allein. Während ich mir die Spange zur Sicherheit ins Haar steckte, drehte ich eine der Zeitschaltuhren, die das Licht regelten, und während der Mechanismus summte und tickte, nahm ich die Schuhe aus der Tüte, um sie mir genauer anzuschauen. Es gab nicht viel zu sehen: ein Paar einfacher, brauner Lederschuhe, altmodisch, ein wenig abgenutzt, die Absätze abgelaufen. Höchstwahrscheinlich viel zu groß für mich, wenn Marc sie tragen konnte – zu meinem Bedauern habe ich für ein Mädchen große Füße, aber sie sind auf keinen Fall so groß wie die eines Basketballspielers. Aber als ich mir die Schuhe an die Füße hielt, sahen sie so aus, als könnten sie mir passen. Merkwürdig. Ich war versucht, sie anzuprobieren, aber das Ticken der Zeitschaltuhr erinnerte mich daran, dass Anjali gesagt hatte, ich müsste mich beeilen. Einer Eingebung folgend hielt ich mir die Schuhe an die Nase, so wie es der Gast oben gemacht hatte, und schalt mich selbst dafür: Igitt, Elizabeth, was ist los mit dir, du riechst an alten Schuhen?
    Aber zu meiner Überraschung roch ich tatsächlich etwas.
    Natürlich hatte ich damit gerechnet, etwas zu riechen – altes Leder, alte Wolle, vielleicht auch alte Füße. Aber das war es nicht. Der Geruch war schwach, aber der Eindruck mächtig, er durchfloss mich wie eine Erinnerung an … ja, an was? Sommerregen auf Zement? Roggentoast bei meiner Großmutter? Irgendetwas Blühendes und Zerbrechliches wie Seifenblasen …. nein, etwas Dickes wie Milch … aber salzig … nein, zitronensauer … Ich nahm tiefere und tiefere Züge, verfolgte den Geruch weiter und weiter aus der Reichweite meines Geistes heraus, wie ein Splitter, den man mit einer Pinzette durch die Fußsohle hindurch verfolgt. Das Gefühl war fast genauso schmerzhaft. Rohe Austern? Majoran? Düsenabgase? Holz?
    Die Zeitschaltuhr lief aus, das Licht erlosch, und die Dunkelheit überraschte mich. Ich stopfte die Schuhe in ihre Tüte und eilte zu Magazin 1 , dem Verlies.
     
    Ich erwartete etwas Gruseliges, aber trotz seines düsteren Namens sah Magazin 1 hell und gewöhnlich aus – viel weniger wie ein Verlies als Magazin 2 . Leuchtstoffröhren erhellten die Gänge und summten leise, als langweilten sie sich. Die üblichen Metallschränke erstreckten sich nach links und rechts, unterbrochen von den gleichfalls üblichen Aktenschränken und Eichenpulten. Die Aufzüge brummten am Sammelpunkt genauso wie in allen anderen Magazinen auch, und die unvermeidlichen Pneus schossen durch die Röhren. Den einzigen Unterschied, den ich zwischen dem Verlies und den anderen Magazinen erkennen konnte, waren eine Reihe umzäunter Areale, wie die Fahrradstellfläche im Keller meiner alten Schule, und einige geschlossene Türen.
    Ein Mantel und ein dunkler dicht gewebter Wollschal hingen auf einem Haken am Sammelpunkt, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Sicherlich war es besser, die Schuhe wegzupacken, bevor wer-auch-immer zurückkäme. Aber wo war bloß das Grimm-Sammelsurium? Ich schaute auf der Wandkarte nach. Es gab verschiedene abgegrenzte Räume an den Enden des Magazins, wie die *Ws in den anderen Stockwerken: * GC hr, * LF , *GdJ … Da, das musste es sein, * GS , ganz im Westen. Schnell eilte ich den Gang hinunter.
    Ich erwartete fast einen spektakulären Eingang im Stil der Tiffany-Fenster und des hölzernen Ausgabepults, aber die Tür zum Grimm-Sammelsurium war genauso schlicht wie der Rest des Magazins. Nur eine gewöhnliche, ziemlich abgenutzte Metalltür, auf der mit glänzender schwarzer Farbe * GS GRIMM SAMM geschrieben stand.
    Ich drückte die Klinke nach unten – es war eine ganz normale Klinke von der Art, die Menschen mit Behinderung das Öffnen von Türen erleichtert. Aber sie wollte sich nicht rühren. Ich kam mir ziemlich dumm vor, nahm aber trotzdem die Spange aus dem Haar und drückte sie gegen die Tür. »Raus ist raus, zu ist Verschluss, dreh den Schlüssel, knack die Nuss. Öffnet Türen, Schalen brecht: Lasst mich rein – so ist es recht«, sang ich mit leiser Stimme.
    Ich drückte die Klinke noch einmal. Nichts geschah.
    Ich sang es noch einmal, dieses Mal lauter. Immer noch nichts.
    Spielte Anjali mir einen gemeinen Streich? Aber sie hatte so aufrichtig, so überzeugend panisch gewirkt. Und als ich nun

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