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Die geheime Sammlung

Die geheime Sammlung

Titel: Die geheime Sammlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Shulman
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Schritte im Gang hörte, geriet ich selbst in Panik.
    Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die richtigen Töne getroffen hatte. Hatte ich vielleicht den Reim durcheinandergebracht? Ich holte den Zettel heraus und überprüfte ihn noch einmal.
    »Raus ist raus, zu ist Verschluss, dreh den Schlüssel, knack die Nuss«, sang ich mit der Hand auf der Klinke. »Öffnet Türen, Schalen brecht: Lasst mich rein – so ist es recht!«
    Diesmal spürte ich ein winziges Klicken, und als ich jetzt die Klinke herunterdrückte, öffnete sich die Tür. Ich schlüpfte hinein und zog sie hinter mir ins Schloss.
    Der Raum sah normal aus, mit denselben Metallregalen und Vitrinen wie im Rest der Bibliothek, und denselben Leuchtstoffröhren. Und doch war hier etwas anders. Unter dem üblichen Summen der Leuchtstoffröhren und der Rohrpost hörte ich ein anderes, tieferes Brummen.
    Dann fiel mir der Geruch auf, derselbe, der mir an den Schuhen aufgefallen war. War es wirklich derselbe? Ich stand an der Türschwelle und schnüffelte wie hypnotisiert. Roher Kürbis? Mineralöl? Blut?
    Ein Pneu zischte durch eine Röhre unter der Decke, erschreckte mich und brachte mich in die Gegenwart zurück. Was tat ich hier eigentlich? Genau: Ich musste Schuhe ins Regal stellen und hatte keine Zeit zu verlieren.
    Die Schuh-Sektion – * GS 391 . 413 bis 391 . 413   099  – füllte einen ganzen Gang. Diese Brüder Grimm, oder wer auch immer dieses Sammelsurium fortgeführt hatte, hatten anscheinend etwas für Fußbekleidung übrig. Die meisten waren ziemlich grob geformt. Auf einem unteren Regal zählte ich zwölf Paare ausgefallener Pantoffeln, mit Löchern in den Sohlen, wie die in meinem Lieblingsmärchen von den zwölf tanzenden Prinzessinnen:
Die zertanzten Schuhe.
    Konnten es diese Schuhe sein, die die Idee für die Geschichte geliefert hatten? Hatten die tanzenden Prinzessinnen wirklich gelebt, wie Marie Antoinette?
    Mich überlief ein Schauer wie der, den ich gefühlt hatte, als ich Marie Antoinettes Perücke angeschaut hatte. Nicht, dass ihre Geschichte, so wie die Brüder Grimm sie erzählt hatten, Sinn ergeben hätte, natürlich nicht – sie konnte nicht wahr sein, mit dem Unsichtbarkeitsmantel und den magischen Wäldern mit silbernen und goldenen Bäumen. Aber die Prinzessinnen hätten ja selbst mal Mädchen wie ich gewesen sein können, lebende Mädchen, die gerne tanzten. Jemand mit echten Füßen hatte Löcher in die Schuhe gelaufen – sie sahen genauso zerschunden aus wie meine Ballettschuhe im letzten Jahr. Ich wünschte, ich hätte die Schuhe meiner Mutter zeigen können. Sie wäre genauso verblüfft gewesen wie ich.
    In der Nähe stand eine Reihe von ausgetretenen Schuhen mit Eisensohlen, alle am Absatz offen. Darüber mit Seide und Silber bestickte Schuhe. Mit Seide und Silber … hatte Dr.Rust mir nicht gesagt, sie hätten Aschenputtels Schuhe nicht hier? Die hier sahen so aus, als könnten es ihre gewesen sein. Sie waren sowieso, zumindest für
mich
, viel zu klein. Hatte es vielleicht auch ein echtes Mädchen gegeben, das für das Märchen vom Aschenputtel als Vorbild gedient hatte? Ein echtes Aschenputtel! Träumte ich das hier?
    Mehr Metallschuhe, insbesondere ein Paar schrecklich aussehender, die mit etwas beschmutzt waren, das aussah wie altes Blut. Igitt! Nur Rost, hoffte ich. Ein Paar nach dem anderen. Hölzerne Schuhe in Bootsform geschnitzt, mit Drachen als Galionsfigur. Ein Paar Sandalen mit abgetragenen Riemen und müde aussehenden Flügeln an den Absätzen, gefaltet wie bei einer schlafenden Taube. Als ich die Hand ausstreckte, um die Flügel zu berühren – ich wollte sehen, ob die Federn echt waren –, flatterten sie kurz und erschreckten mich. Ich erinnerte mich an Anjalis Warnung und zog meine Hand zurück, aber es war sicherlich nur ein Luftzug gewesen.
    Die falschen Schuhe standen an genau dem Ort, den Anjali mir beschrieben hatte – in der zweiten Vitrine unter der Nummer I * GS 391 . 413 S 94 . Mit Ausnahme der Nummer sahen sie genauso aus wie das Paar, das ich in der Plastiktüte bei mir trug. Wenn ich die Etiketten durcheinanderbringen würde, könnte ich sie nicht mehr voneinander unterscheiden.
    Vielleicht nach dem Geruch? Ich schnüffelte an den Schuhen, die ich aus der Vitrine genommen hatte. Sie rochen nach Leder und Staub, mit einem käsigen Unterton von Füßen. Ich legte sie weg und roch an dem Paar, das Anjali mir gegeben hatte. Der mysteriöse Geruch war jetzt so stark, dass mir die

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