Die geheime Sammlung
Aufgaben aufdrücken konnte oder mich zwang, ihren Prahlereien über meine Stiefschwestern zuzuhören.
Ich wünschte, mein Vater wäre zu Hause gewesen, damit ich ihm von meinem neuen Job hätte erzählen können. Nicht, dass er mir besonders oft zugehört hätte.
Stattdessen erzählte ich es Francie, meiner Puppe. Ich weiß, das hört sich kindisch an, aber sie war die Puppe meiner Mutter – und manchmal, wenn ich ihr etwas erzähle, fühlt es sich ein bisschen so an, als würde ich mit Mama reden.
Francie lächelte mir aufmunternd zu. Sie lächelt immer, weil ihr Lächeln aufgenäht ist, aber ich fasste das trotzdem als gutes Zeichen auf.
Francie ist die einzige Puppe aus Mamas Sammlung, die ich behalten durfte, nachdem Hannah Lieselottes Nase abgeschlagen hatte. Lieselotte war das Prunkstück von Mamas Sammlung, eine über 150 Jahre alte Porzellanpuppe aus Deutschland und sehr wertvoll.
Als Cathy die Puppen fortgeräumt hatte, sagte sie: »Ich lege die hier weg, bis du alt genug bist, ordentlich mit ihnen umzugehen.«
Ich wusste damals schon, dass es keinen Sinn gehabt hätte, sich zu beschweren. Cathy ergriff immer für ihre eigenen Töchter Partei. Anfangs beschwerte ich mich noch bei meinem Vater darüber, aber er sagte immer nur: »Versuch bitte, mit deinen Stiefschwestern zurechtzukommen, mir zuliebe. Ich weiß, du kannst das. Du bist meine kleine Friedensstifterin. Du hast ein großes, freigiebiges Herz, genau wie deine Mutter.« Also erzählte ich Cathy, ich hätte Lieselotte nicht zerbrochen, sagte ihr aber nicht, wer es gewesen war.
»Wenn du nicht alt genug bist, Verantwortung zu übernehmen, bist du auch nicht alt genug, um mit so wertvollen Puppen zu spielen«, blaffte Cathy. »Jetzt fang nicht an zu heulen! Hier, die hier kannst du behalten, die ist nichts wert. Selbst
du
kannst bei einer Stoffpuppe keinen Schaden anrichten. Wenn du älter bist, wirst du dich bei mir bedanken.« Und mit diesen Worten hatte sie mir Francie in die Hand gedrückt und den Deckel über Lieselottes bleichem, aristokratisch überrascht wirkendem Gesicht zugeklappt.
»Zeit zu telefonieren, Francie?«, fragte ich.
Sie lächelte ein Ja, und ich wählte die Nummer auf dem Papier.
Eine Stimme meldete sich. »Lee Rust.«
»Hallo, Dr.Rust? Ich … hier ist Elizabeth Rew. Mein Gemeinschaftskundelehrer Mr.Mauskopf sagte, ich solle Sie wegen eines Jobs anrufen.«
»Ach ja. Elizabeth. Stan sagte mir, du würdest dich melden. Freut mich, Elizabeth, freut mich.«
Stan? Mr.Mauskopf hatte einen Vornamen?
»Kannst du nächsten Donnerstag nach der Schule zu einem Vorstellungsgespräch kommen?«, fragte er.
»Ja, natürlich. Wohin genau?«
Die Adresse, die Dr.Rust mir gab, war nicht weit von meiner Schule entfernt, östlich des Central Park. »Frag nach mir am Empfang, sie schicken dich dann nach oben.«
Auf der unauffälligen Bronzeplatte neben der Tür stand:
New Yorker Repositorium der Verleihbaren Schätze.
Von außen sah es wie ein typisches Manhattaner Gebäude aus braunen Steinen aus, das letzte in einer langen Reihe. Nebenan stand ein großes altes Herrenhaus von der Art, in der heutzutage Museen oder Konsulate untergebracht sind. Das Haus wäre eine eindrucksvolle Bibliothek gewesen, dachte ich, als ich die Stufen zum Repositorium hinaufging und die schweren Türen öffnete. Solche Orte hatte ich oft mit meinem Vater besucht, bevor er Cathy kennengelernt hatte. Wir hatten jedes verregnete Wochenende in Museen und Bibliotheken verbracht, besonders in den weniger bekannten, wie dem Museum of the City of New York und der New York Historical Society mit ihren Sammlungen von seltsamen Dingen, altem Porzellan, Blechschmiede-Werkzeugen und Modellen der Stadt vor der Revolution. Unser Lieblingsspiel war Such-das-Gemälde (oder die Uhr, den Stuhl, die Fotografie oder was auch immer), das auch Mama am besten gefallen hätte.
Ich war seit Jahren nicht mehr mit Papa im Museum gewesen, aber als sich jetzt die Türen öffneten und mir der leicht muffige Geruch entgegenschlug, kamen alle Erinnerungen zurück. Ich fühlte mich, als wäre ich durch die Zeit zurück an einen Ort gekommen, den ich einst Zuhause genannt hatte.
Durch irgendeinen perspektivischen Trick führte der Eingang in einen weiten, rechteckigen Raum, der größer als das Gebäude zu sein schien, in dem er sich befand. An der gegenüberliegenden Seite thronte ein massiver, kunstvoll geschnitzter Schreibtisch aus dunklem Holz.
Ein Junge in meinem Alter
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