Die geheime Sammlung
sie nur vorsichtig wegen ihrer Schwester, oder wusste sie wirklich nicht Bescheid? Ich gab Jaya den Fächer zurück. »Pack ihn zurück ins Regal«, sagte ich. »Vorsichtig.«
Zu meiner Überraschung gehorchte Jaya und schnüffelte ihn selbst von oben bis unten ab. Sie griff nach einer mit Intarsien geschmückten Kiste, aber Anjali sagte: »Nein!«
Es war klar, dass sie meinte, was sie sagte, und selbst Jaya hielt inne. »Nicht die«, sagte Anjali.
»Aber ich will doch nur reinschauen«, sagte Jaya.
»Du gehst da nicht ran. Das meine ich ernst. Tante Shanti hat gesagt, dass sie bodenlos ist. Und du wirst deinen Hosenboden nicht mehr spüren, wenn du sie anfasst.«
Veralberte sie Jaya, oder meinte sie das wirklich ernst? Und was machte Anjalis Familie mit all diesen magischen Gegenständen?
Dass Anjalis Familie im Besitz von Magie war, war allerdings auch nicht ungewöhnlicher als die Tatsache, dass es Magie überhaupt gab. Und schließlich hatten sie eine Menge Dinge, die andere Familien nicht hatten, zum Beispiel geschnitzte Tische, Kisten mit Intarsien und ausgefallene Blumengestecke. Ich fragte mich, welche magischen Eigenschaften der Fächer hatte.
Jaya zuckte mit den Schultern und flegelte sich neben mir aufs Sofa. »Also, was für ein schreckliches Ding ist hinter dir her?«, fragte sie leichthin.
Anjali verdrehte die Augen. »Oh, Jaya, hau ab. Hast du keine Hausarbeiten auf?«
»Hab ich schon gemacht. Was ist das schreckliche Ding?«
»Gibt es nicht.«
»Wieso hat Elizabeth dann geschrien?«
»Sie hat nicht geschrien.«
Jaya drehte sich zu mir um. »Ist hinter dir auch etwas Schreckliches her? Ich kenne nämlich einen guten Schutzzauber.«
»Tatsächlich?«
»Ich brauche ein Stück Bindfaden. Oder Garn oder Band oder so was.« Wie ein Derwisch sprang sie vom Sofa auf und stürzte sich auf Anjalis Nähkästchen, fischte eine Rolle roten Garns heraus und biss ein Stück mit den Zähnen ab.
»Jaya, das ist widerlich«, kam wie automatisch Anjalis Kommentar. Sie verknotete den Faden, mit dem sie meinen Knopf angenäht hatte, und schnitt ihn ordentlich mit einer kleinen Schere ab.
Jaya ignorierte sie. »Streck deinen Arm aus«, befahl sie, an mich gewandt. Sie wickelte das Garn doppelt um mein Handgelenk und knüpfte einen Knoten, während sie auf ihrer Unterlippe herumkaute. Dann führte sie die Enden mal oben, mal unten herum und wickelte sie sich um ihre Finger. Zu guter Letzt nahm sie ein Ende in jede Hand, kniff mich dabei leicht und deklamierte:
»Trotz und Trutz, dies gibt dir Schutz!«
Damit zog sie den Faden fest und grinste mich stolz an.
Ich schaute mir mein Handgelenk an. Ich trug jetzt ein Armband aus purpurrotem Garn mit einem gewöhnlichen Knoten und ausgefransten, speichelnassen Enden. »Danke schön, Jaya«, sagte ich.
»Nimm es nicht ab. Solange es an deinem Arm ist, solltest du zumindest vor böser Magie geschützt sein. Ich glaube aber nicht, dass es gegen Straßenräuber oder Verkehrsunfälle hilft.«
»Wer hat dir denn das beigebracht? Tante Shanti?«, fragte Anjali.
»Nein, Miss Bender.«
»Wer ist Miss Bender?«, fragte ich.
»Meine Lehrerin in Handarbeit.«
»Ihr habt Handarbeit?«
»Natürlich. Alle Mädchen an der Wharton lernen Nähen. Das ist ein wichtiger Punkt in der Erziehung junger Damen.« Jaya klang, als würde sie eine Lehrerin zitieren.
»Miss Bender hat mir die Anstellung im Repositorium besorgt«, sagte Anjali.
»Oh. Ich verstehe.« Anjalis Gegenstück zu meinem Mr.Mauskopf.
Wenn ihre Lehrerin in Handarbeit, die zugleich Anjalis Verbindung zum Grimm-Sammelsurium war, den Rao-Schwestern Schutzmagie gegen Böses beibrachte, dann kannte Mr.Mauskopf vielleicht auch etwas, das mir helfen könnte. Aber sollte ich ihn fragen? Wie sehr hatte dieser Job doch mein Leben verändert. Das Gute daran: Zauberei. Und vielleicht noch wichtiger: Freunde. Das Schlechte daran: Ebenfalls Zauberei. Von der dunklen, furchterregenden Art, die dafür sorgt, dass man sich Gedanken darüber macht, wie man Böses abwehrt.
Es klopfte an der Tür. »Anjali? Jaya? Das Abendessen ist fertig.«
Anjalis Eltern aßen mit den Fingern. Das klingt unhygienisch, aber das war es nicht. Sie hatten vollendete Tischmanieren, griffen sich vorsichtig kleine Stücke mit etwas dünnem, flachem Brot oder mit Reisklumpen. Mr.Rao sah, dass ich nervös auf meinen Teller blickte. »Hat Aarti dir keine Gabel gegeben?«, fragte er mich. »Tut mir leid, das hätte ich ihr sagen sollen. Wie gedankenlos
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