Die geheime Sammlung
sagte Aaron.
Mir wurde klar, dass niemand
mich
irgendwohin bringen wollte. »Meint ihr, der Vogel ist hinter Anjali her?«, fragte ich.
»Sie hat ihn schon einmal gesehen«, sagte Marc. »Es könnte sein, dass er ihr folgt.«
Aaron nickte. »Wir erzählen das besser den Bibliothekaren.«
Marc und Anjali sahen einander an. »Er hat recht«, sagte Anjali. »Sie sollten Bescheid wissen.«
Dr.Rust war schon weg, aber wir fanden Ms.Callender in Magazin 6 . »Oh, wie furchtbar!«, sagte sie. »Was hat er gemacht, hat er nur durch das Fenster geschaut? Oder hat er versucht reinzukommen?«
»Er hat durch das Oberlicht geschaut«, sagte Anjali. »Er flog weg, sobald ich ihn entdeckt hatte. Als hätte er bemerkt, dass ich ihn bemerkt habe. Was wollte er wohl?«
»Habt ihr irgendwelche Gegenstände aus den Sondersammlungen repariert?«
»Ja, die geflügelten Sandalen und das deutsche Tischleindeckdich.«
»Das ist sehr ärgerlich. Wir müssen morgen mit Dr.Rust reden. Seid lieber besonders vorsichtig. Geht ihr zusammen nach Hause?«, fragte Ms.Callender.
»Gute Idee«, sagte ich. »Lasst uns zusammen gehen.«
»Ja, Liebes«, sagte Ms.Callender. »Bleibt zusammen, und ihr seid sicher.«
Kurz darauf eilten wir mit gesenkten Köpfen durch die Kälte. Anjali wohnte nur ein paar Blocks weit entfernt, und als wir an ihrer Ecke ankamen, erfasste uns ein eiskalter, heftiger Wind. Ich klappte meinen Kragen hoch und wickelte mir den Schal um, aber der Wind kam trotzdem durch.
»Wieso nähst du den obersten Knopf nicht wieder an?«, fragte Anjali.
»Du hast doch gesehen, wie ich nähe.«
»Das hättest du mir vorhin sagen sollen, dann hätte ich das schnell für dich erledigt.«
»Danke, darauf komme ich vielleicht nächste Woche zurück.«
Sie lächelte. »Weißt du was? Komm mit hoch, und ich nähe ihn jetzt gleich an.«
»Oh, das wäre großartig. Bist du dir sicher?«
»Natürlich. Das ist ganz einfach.«
»Danke, Anjali!«
Wir verabschiedeten uns an Anjalis Tür von den Jungs. Sie lebte in einem der großen Gebäude mit Apartments in der Park Avenue. Ich war oft an ihnen vorbeigegangen und hatte in die vergoldeten und marmorgetäfelten Eingangshallen hineingeschielt, aber ich hatte noch nie eines der Häuser betreten. Ein Pförtner in Uniform mit Messingknöpfen und einer Schirmmütze eilte herbei, öffnete uns die Tür und sagte: »Guten Abend, Miss Anjali.«
»Danke, Harold«, antwortete sie ohne eine Spur von Verlegenheit, als ob Männer in Uniform jeden Tag in ihrem Leben die Türen für sie öffneten und sie Miss Anjali nannten. Und wahrscheinlich entsprach sogar ganz genau das der Wahrheit.
Der Fahrstuhl war mit Zitronenholz getäfelt und hatte hochgeklappte Lederbänke. Wir stiegen im 14 . Stock aus. Da hingen Ölgemälde an den Wänden, und eine Vase mit frischen Blumen stand auf einem Tischchen. Anjali öffnete die rechte Tür. Ein köstlicher, würziger Duft strömte in den Flur. Ich folgte ihr nach drinnen.
»Anjali? Bist du das?«, rief ihr jemand aus dem Apartment entgegen.
»Hallo, Mama! Ich habe eine Freundin mitgebracht.« Anjali hängte ihren Mantel in einen Schrank neben der Tür und legte sich meinen über den Arm. Ich folgte ihr durch einen Flur in ein großes Wohnzimmer. Ihre Mutter sprang auf, als sie uns sah, und kam mit demselben federnden Gang wie ihre Tochter zügig auf uns zu. Sie trug eine klassische Kombination aus Rock, Pullover und zu teuer aussehenden Schuhen, und an ihren Ohren funkelten Rubine. Sie war ungefähr sechsmal so schön wie jede andere Mutter, die ich bis jetzt gesehen hatte. Hätte sie nicht so freundlich gelächelt, wäre ich eingeschüchtert gewesen.
»Mama, das ist Elizabeth«, sagte Anjali.
»Elizabeth Rew, oder? Ich bin Krishna Rao.« Sie reichte mir die Hand. »Ich bin so froh, dich endlich kennenzulernen. Anjali hat schon so viel von dir erzählt.«
»Wirklich?«
»O ja!« Wie ihre Tochter hatte sie eine hohe Stimme mit melodischem Akzent. »Du arbeitest mit Anjali im Repositorium, gehst auf die Fisher High School und bist ein großer Basketball-Fan. Hab ich noch was vergessen? Es ist so nett von dir, Anjali zum Basketballspiel einzuladen. Ich weiß, wie sehr sie sich darauf freut.« Sie drückte meine Hand noch einmal und ließ sie los.
Ich blickte zu Anjali, die angespannt wirkte. »Unsere Spiele sind nichts im Vergleich zu denen an der Fisher«, sagte sie. »Die Fisher ist so viel größer als die Wharton, und wir sind eine reine Mädchenschule. Da
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